Das Phänomen Nick Kyrgios: Geläutert in die Niederlage

Was haben wir nicht alles erwartet an diesem Finaltag in Wimbledon. Wetten wurden gar abgeschlossen, dass Nick Kyrgios seine Sportart wechselt. Vom Tennisspieler zum Hammerwerfer wird oder, um es genauer zu definieren, zum Tennisschlägerwerfer. Wie ein unbekanntes Flugobjekt wäre das Spielgerät quer über den heiligen Rasen geflogen. Einer Drohne gleich. Und vielleicht sogar vor den Füßen der Mitglieder des britischen Königshauses gelandet, was dann natürlich der Supergau gewesen wäre.

Doch nichts geschah. Der Himmel blieb sauber. Der Australier, der augenscheinlich die ganze Bandbreite ausufernder Gefühle bedienen kann, blieb während des Endspieles vergleichsweise ruhig. Aus seiner Sicht vermutlich schon gelassen, wenngleich seine Schimpftiraden auch weiterhin stattgefunden haben. Aber diesmal geißelte er sich selbst mit Anschuldigungen, gerichtet an Nick Kyrgios persönlich. Ganz so, als säße ein Zwilling neben ihm, den nur er sah. Vermutlich war er in diesen Augenblicken der beginnenden Selbstzerstörung der einsamste Mensch auf dem Center-Court.

Nick Kyrgios Ausnahmefähigkeiten sind unbestritten. © APA/afp / DANIEL LEAL

Sportler wie er faszinieren und polarisieren. Sie sind aber auch der Garant gegen manche Eintönigkeit ewig langer Ballwechsel. Meint man es gut mit ihnen, werden sie gerne &bdquo;Exzentriker“ genannt. Die Begriffe &bdquo;Außenseiter“ oder &bdquo;Spinner“ oder gar &bdquo;Freaks“ sind nicht weit weg. Es sind Akteure, die uns, die wir vermeintlich in normalen Strukturen leben und aufgewachsen sind, eine Gänsehaut über den Rücken jagen, die aber auch unsere Sucht nach der Sensation befriedigen. Wir schauen zu und fragen uns nach einem gefühlsmäßig harmlosen ersten Satz im Endspiel: &bdquo;Wann wird er endlich ausrasten?“ Der Saubermann Roger Federer Einer wie Roger Federer hätte sein ganzes wunderbar nettes Image zerstört, wenn er auch einmal den Tennisschläger nur zu Boden hätte fallen lassen. Ohne Schwung. Doch nicht einmal eine solche Tätlichkeit, und für Federer wäre es eine solche gewesen, ist ihm je unterlaufen.

Roger Federer (r.) bekam in Wimbledon viel Beifall – auch von Novak Djokovic (l.) © APA/afp / ADRIAN DENNIS

Der Schweizer ist der Saubermann der Branche gewesen und auch geblieben. Die Gänsehaut, die er verursachte, entstand nach Passierschlägen mit der Rückhand. Einhändig geschlagen mit einer unvergleichlichen Eleganz, sich über alles erhebend in diesen Augenblicken. Kyrgios kann das auch. Er kann ja alles, was man mit einem Tennisschläger so machen kann. Mitunter eben auch Kleinholz, wobei die durch viele Schläge auf den Boden zerstörten Rackets Kultstatus besitzen. Wohl dem, der eines davon zu Hause hat. Vom Finale in Wimbledon gegen Novak Djokovic kam jedenfalls kein weiteres Schlägerkunstobjekt hinzu. Der Australier wandelte sich vom bösen Wolf zwar nicht gleich zum liebevollen Stallhasen (soviel Kreide kann kein Mensch fressen) aber er erwies sich als würdiger Finalist und sportlich großartiger Gegner des Serben Novak Djokovic, der ja auch polarisiert. Djokovic hat sich im Griff Freilich auf andere Art und Weise. Auf dem Tennisplatz ist er ein absoluter Souverän, wie er auch bei seinem 21. Grand-Slam-Sieg erneut unter Beweis gestellt hat. Allerdings wirkt er manchmal arrogant und auch seine Jubelgesten nach einem Erfolg gleichen eher einem einstudierten Ritual und scheinen nicht unbedingt dem Herzen zu entspringen. Sein Zirkus über die letztlich nicht genehmigte Teilnahme an den Australien-Open zu Beginn des Jahres war eines Champions unwürdig.

Doch seine sportlichen Vorstellungen sind über jeden Zweifel erhaben. Er wirkt in stressigen Phasen eines Spieles immer ruhig und beherrscht. Und er spielt dann, wenn wir glauben, er stünde jetzt besonders unter Druck, sein bestes Tennis auf einem Niveau, das ihn dann eben doch zu einem der außergewöhnlichsten Spieler seiner Generation macht. Sein Spiel ist eine Augenweide, angefangen von einer unglaublichen Flexibilität bei seinen Aufschlägen bis hin zu butterweichen Stoppbällen, die wie von Zauberhand gesteuert mit Drall knapp hinter dem Netz auf der gegnerischen Seite den Boden berühren. Sanft fast wie eine Schneeflocke und unerreichbar für seine Gegner.

Dabei ist Djokovic alles andere als eine Ballmaschine und er hat in Wimbledon sogar mächtig viel Sportsgeist bewiesen. Als im Viertelfinale sein Gegner Jannik Sinner aus Sexten beim Versuch, eben einen jener Stoppbälle zu erreichen, so unglücklich stürzte, dass gar eine Verletzung nicht ausgeschlossen zu sein schien, eilte Djokovic sofort zu ihm und half ihm wieder auf die Beine. Das hat ihm viele Sympathien eingebracht und auch ein wenig davon abgelenkt, dass er sich partout auch weiterhin nicht gegen Corona impfen lassen will, weshalb er wohl nicht bei den US-Open Ende August antreten darf. Doch das ist im Grunde seine eigene und klar persönliche Entscheidung, die indes weitreichend ist. So kann er nicht zu Nadal aufschließen, was die Anzahl der Grand-Slam-Titel betrifft. Die neue Generation ist bereit Wimbledon hat aber auch noch einmal deutlich gemacht, dass die Zeit des dominanten Dreigestirns Federer-Nadal-Djokovic definitiv vorbei ist. Nadal, der kürzlich noch sogar angeschlagen die French Open gewann, trat verletzt zum Halbfinale nicht mehr an (gegen Kyrgios) und Federer kam nur im schicken, blauen Zweireiher zu einer Ehrung nach London. Djokovic stand derweil ein paar Mal am Rand einer Niederlage. Auch gegen Jannik Sinner, wenngleich er sich letztlich erneut behauptete. Eine ähnlich dominante Gruppe wie dieses faszinierende Trio wird es auf absehbare Zeit nicht mehr geben. Potentielle Nachfolger haben allerdings ihren Fehdehandschuh bereits in den Ring geworfen. Dazu gehören Alexander Zverev, Daniil Medvedev, Carlos Alcaraz und ganz bestimmt auch Jannik Sinner, dessen Umstellung im Trainerstab fast schon Wunder gewirkt hat. Und nicht zu vergessen natürlich auch Nick Kyrgios. Es wird also garantiert nicht langweilig werden auf den Tennisplätzen dieser Welt.

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