Sigi's Spitzen: Wunderliche Siegehrung

Sigi Heinrich

Vorwort: Die geschilderte Handlung ist frei erfunden. Die Tatsache freilich, dass viele Olympiamedaillen im Biathlon der Spiele von 2010 und 2014 neu vergeben werden könnten, entspricht dem derzeitigen Wissensstand. Der Internationale Sportgerichtshof (CAS) hat vor wenigen Tagen die Entscheidung des Internationalen Biathlon-Weltverbandes (IBU) bestätigt, dass alle Resultate des russischen Biathleten Jewgeni Ustjugow wegen Auffälligkeiten in seinem biologischen Blutpass von 2010 bis 2014 aberkannt werden. Eine Siegerehrung vor der Haustüre … und so fährt ein ganz normales und wirklich unauffälliges Auto an einem noch immer recht lauen und frühen Novembertag im Süden Münchens vor dem Haus von Arnd Peiffer vor. Der deutsche Biathlet, einer der erfolgreichsten seiner Zunft, wundert sich zunächst. Es könnten, so der erste Gedanke, Kontrolleure der Internationalen Dopingagentur (WADA) sein. Fürchten muss er sich nicht. Er hat seinen Anwesenheitsnachweis immer sauber geführt. Und Überprüfungen gehören längst zum Alltag eines Weltklassesportlers. Und so setzt er sich wieder gelassen in der Küche an den Tisch, um weiter in Ruhe zu frühstücken. Bis es klingelt.

Leger im Trainingsanzug öffnet er die Türe und sieht einen Mann vor sich, gut gekleidet, dezente Krawatte zum grauen Anzug, der eine Art Schemmel in der rechten Hand hält. Und in der anderen baumelt ein kleiner Rucksack. Natürlich hat Arnd seine Maske aufgesetzt und so stehen sich beide vermummt gegenüber. &bdquo;Hallo Herr Peiffer.“ Es ist mehr eine Frage als eine Feststellung. &bdquo;Ja, was gibt es“, erwidert Arnd. Der Fremde hält ihm eine Karte unter die verdeckte Nase. Gerome Klein, IOC, liest Arnd und wird seinerseits gebeten, sich auszuweisen. Das wundert ihn schon wieder. Seltsam, sehr seltsam, denkt er sich, aber bitte: Der Typ macht nicht den Eindruck, als wolle er ihm den Schemmel über die Rübe ziehen. Er holt seinen Ausweis und als er zurückkommt, hat Herr Klein seinen Schemmel mittig vor die Türe gestellt und ein Tuch darüber ausgebreitet. Vorne sind die olympischen Ringe zu erkennen, doch das sieht Arnd nicht. Er steht ja dahinter. Er habe, sagt der Abgesandte des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) - denn seine Institution ist für die Neuvergabe von Medaillen zuständig - eine gute Nachricht. &bdquo;Herr Peiffer, sie sind Olympiasieger.“ Und Arnd wundert sich zum dritten Mal.

Er war mit seinen Kollegen Daniel Böhm, Erik Lesser und Simon Schempp Zweiter geworden in der Staffel von Sotschi. Das ist zwar schon fast sieben Jahre her, aber die Erinnerung ist noch so schön, als wäre das gestern gewesen. Er war glücklich über diese Medaille. Und jetzt dies. Er möge, sagt Herr Klein sehr förmlich, doch bitte auf das kleine Podest steigen, das er mitgebracht hat. Er würde nämlich gerne die Siegerehrung nachholen. Arnd realisiert, was abgeht. Er saust zurück ins Haus, kramt noch schnell den offiziellen Anorak der deutschen Mannschaft von 2014 aus und springt auf das Stühlchen, das recht sicher zu stehen scheint. Und dann zaubert Herr Klein aus seinem Rucksack eine Goldmedaille und hängt sie Arnd Peiffer um. Der kommt aus dem Wundern nicht mehr raus, denn kaum ist dieser Akt vorbei, tönt aus dem Handy von Herrn Klein die deutsche Nationalhymne. Arnd steht ein bisschen stramm. Dann wird er noch von allen Seiten von Herrn Klein fotografiert und es wird ihm zugesichert, dass er die Bilder zugesandt bekommt.

Einen Händedruck gibt es nicht. Corona. Beim Abspielen der Hymne hat der Arnd die Maske abnehmen dürfen. War ja sonst auch niemand da. Gerome Klein bedankt sich für die Zusammenarbeit, lehnt die Einladung zu einer Tasse Kaffee ab. &bdquo;Ich muss weiter“, sagt er, packt seinen Schemmel ein und verstaut ihn im Kofferraum. Zuvor gibt er Arnd noch die Schatulle für die Medaille. Peiffer schließt die Türe und ist jetzt zum zweiten Mal Olympiasieger. Dann ruft er Erik Lesser an und Simon Schempp. Beide sind zuhause. Daniel Böhm erwischt er im Büro des Internationalen Biathlon-Verbandes in Salzburg, wo Böhm mittlerweile arbeitet. &bdquo;Da kommt einer bei Euch vorbei, der wird euch eine Goldmedaille von Sotschi bringen“, erklärt Arnd seinen Kumpels. &bdquo;Aber wundert Euch nicht. Es ist alles sehr seltsam.“ Und er erinnert sich an Pyeongchang 2018, als nach seinem Sprintsieg eine richtige Siegerehrung bei Olympischen Spielen erleben durfte. Zum Glück.

Nachwort 1: Noch ist die Entscheidung über Ustjugow nicht endgültig, denn sein Anwalt hat Widerspruch eingelegt. Die Medaillen werden übrigens meist auf dem Postweg zugestellt. Es obliegt den nationalen Verbänden, für die Überreichung irgendwann einen schönen Rahmen zu finden. Zeitlich ist man nicht mehr gebunden. Ob man nun nach sieben oder zehn Jahren plötzlich Olympiasieger wird: Der große emotionale Moment ist vorbei und nicht wiederholbar.

Nachwort 2: Der österreichischen Staffel von 2014 stünde Silber zu. Norwegen gewänne die Bronzemedaille und Ole-Einar Björndalen hätte damit statt wie bisher 13 nun 14 olympische Medaillen. Martin Fourcade (Frankreich) wäre 2010 Olympiasieger im Massenstart, Christoph Suman (Österreich) bekäme nachträglich Bronze wie auch die schwedische Staffel, die ebenso zunächst auf Rang vier landete. Und weil es auch die Ergebnisse von Weltmeisterschaften beträfe, stünde Lukas Hofer (Montal) die Silbermedaille im Massenstart von 2011 zu ( SportNews berichtete ).

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