Verkehrte Jahreszeit für Wierer

Wollten wir nicht in den sanften Wellen des Mittelmeeres baden? Sommer genießen einfach. Mit Sonnenschutzfaktor 50 auf der schon etwas geröteten Haut und dem lässigen Lebensgefühl dieser Jahreszeit, nach der wir uns – ehrlich – ein ganzes Jahr lang sehnen? Wir wollen doch keine dicken Anoraks tragen, morgens das Auto vom Frost befreien und in der Wohnung die Heizung aufdrehen. Schon gar nicht bei den zu erwartenden horrenden Kosten. Wollen wir nicht. Und dennoch schickt uns der Winter jetzt Vorboten, mitten in der nächsten Hitzewelle. Die Biathleten sind los. Sie laufen und schießen. Im August.

Sommerbiathlon nennt sich das. Keine Sorge. Das für den Winter möglicherweise wieder notwendige Schneedepot schläft in Ruhpolding ordentlich zugedeckt brav vor sich hin. Mann und Frau skaten auf Rollerski durch die Chiemsee-Arena, schießen auf die Scheiben, die sie schon vom Winter kennen und verkaufen sich dabei prima. Erste Standortbestimmung und so. Knisternde Spannung. Immerhin ist es die bestbesetzte Sommer-Weltmeisterschaft, die es je gegeben hat. Das liegt am Austragungsort. Deutschland nominierte deshalb erstmals alle Asse, die anderen Nationen wie Frankreich, Schweden und Italien zogen nach.

Das ist erst mal schön und zudem eine gute Nachricht für die Techniker. Die Spezialisten für die Beläge der verschiedenen Schneearten und Temperaturen können sich die Sonne auf den Pelz scheinen lassen. Ihre Dienste sind im Moment nicht gefragt. Rollen statt gleiten. Auf Rollern wird ja auch hauptsächlich trainiert, um für den Winter gewappnet zu sein. Jetzt trifft man sich halt, um sich zu messen und auszuhorchen. Aber es ist natürlich nur ein Test, den niemand in der Szene wirklich bierernst nimmt. Auch hier muss man schon so ehrlich sein und festhalten, was unisono alle sagen: Dass es halt doch einen mächtigen Unterschied macht, ob man rollt oder auf Langlaufskiern durch den Schnee pflügt. Der Sommer wird zum Winter Fakt indes ist, dass die Wintersportarten versuchen, auch im Sommer präsent zu sein, um quasi nicht den Anschluss zu verlieren. Das Interesse soll hoch gehalten werden gegen Leichtathletik, Schwimmen, Klettern jetzt auch und Tennis und natürlich Fußball. Wobei die letztgenannte Sportart dem Wintersport in diesem Jahr arg zusetzt, weil die Weltmeisterschaft im November und Dezember stattfindet. Der Gegenentwurf, Sommer-Biathlon-WM und Skispringen im Sommer, fällt dagegen harmlos aus. Das juckt die kickende Anhängerschar reichlich wenig. Und wenn wir erneut ehrlich sind und uns gewissenhaft hinterfragen, dann ist um diese Jahreszeit, also jetzt im August, Wasserspringen erquickender als Skispringer in dicken Anzügen zu beobachten, die in einer Keramikspur auf die Schanze zurasen und dann auf einer grasähnlichen Kunststoffmatte landen. Im Grunde ist es so, dass man in diesem Moment den Schnee vermisst. Mitten im Sommer. Aber nur dann.

Dorothea Wierer geht bei der Weltmeisterschaft an den Start. © Social Media

Die Zukunft ist sowieso ein Horrorszenario. Noch gibt es etwa den Gletscher auf dem Rettenbachferner im Ötztal. Aber vielleicht erleben wir noch in unserer Generation, dass nach dem Ötzi noch ein paar seiner Kumpels von früher dort oben vom Eise befreit werden. Sei es auf italienischer oder auf österreichischer Seite. Das Gletschersterben kennt sowieso keine Grenzen. Dann gibt es keinen Riesenslalom mehr dort, höchstens noch einen Slalom über frühere Gletscherspalten auf nacktem Geröll. Aber das ist nicht so tragisch wie man glaubt. Für die Umwelt und für unser Klima ist es natürlich eine Katastrophe. Der Skisport hingegen wird sich anpassen.

Schon gibt es Extremsportler, die über Geröllhalden Schwünge ziehen. Natürlich sind die Skier hinterher kaputt. Toll. Die Skiindustrie freut sich. Nach jedem Rennen benötigt man neues Material. Es wird weitergehen, irgendwie. Es gab schließlich auch schon Grasskimeisterschaften und Hallenskimeisterschaften. Das ist überhaupt die Zukunft. Selbst in der Wüste haben sie schon Hallen gebaut, in denen man auf Kunstschnee schöne Schwünge ziehen kann. Danach ein Sprung ins kühle Nass im Persischen Golf und die Welt, die gerade um ihr Überleben kämpft, ist wieder in Ordnung.

Biathlon und Langlauf wäre da auch möglich. Bloß die Skispringer, die armen, hätten ein Problem. Obwohl: Große Sanddünen böten sich möglicherweise an. Da diese auch wandern, sind verschiedene Veranstaltungsorte gesichert. Wir müssen uns jedenfalls mit viel Fantasie und Einfallsreichtum wappnen für die Zukunft, in der es nur noch Meisterschaften auf Skirollern geben wird und auf Steinwüsten und in der eine Schneeschaufel ein Relikt sein wird aus einer Zeit der Erdgeschichte, in der wir mutwillig, leichtsinnig und sehenden Auge das Ende dieser Welt beschleunigt haben.

Zur Person: Sigi Heinrich Der renommierte Sportjournalist, Buchautor und vielfach ausgezeichneter Eurosport-Kommentator (u.a. Gewinner des Deutschen Fernsehpreises und des Bayerischen Sportpreises) widmet sich in seiner Kolumne “Sigi´s Spitzen“ nicht nur der gesamten Vielfalt des Sports. Auch Themen außerhalb seines gewohnten Metiers beschäftigen ihn. Mal sehr ernsthaft, oft auch mit einem verschmitzten Augenzwinkern und mitunter auch bewusst provozierend. Es soll ja für alle was dabei sein.

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