Sigi's Spitzen | Die Vielfalt raubt die Erinnerungen

Es gibt keine Verschnaufpause. So gut wie keine jedenfalls. Dem kurzen Innehalten an den Weihnachtsfeiertagen folgt schon wieder ein schier gnadenloser Terminkalender. Langlauf, Skispringen und Ski alpin haben sich dabei die Deutungshoheit erst einmal unter den Nagel gerissen. Die Biathleten hingegen gestatten sich doch tatsächlich großzügig (bis auf die Teilnehmer an der Hallenveranstaltung in Gelsenkirchen, die eher ein Showevent ist) eine Pause über den Jahreswechsel hinaus. Und erstaunlicherweise bleiben zumindest auf internationaler Ebene fast alle Eisflächen ungenutzt.

Weder Curler, noch Eiskunstläufer oder Eisschnellläufer sind aktiv bei Wettkämpfen (Die Eishockey-WM ist dann im Frühjahr). Das mag man kaum glauben, denn es ist ja jetzt die Zeit im Jahr, in der viele sich in ihrem Job eine Pause gönnen. Vulgo: Die Röhre glüht. So hätte man das früher so schön formulieren können, als die TV-Geräte noch gewaltige, unförmige Kästen waren und nicht filigrane Flachbildschirme wie sie nun in jedem Haushalt stehen oder hängen. Oft schon in mehreren Zimmern. Und so verdrängt die Aktualität zwangsläufig fast schon die Rückschau auf das vergangene Sportjahr, das, man glaubt es wirklich kaum, ja tatsächlich in den erwähnten Sportarten mit Schwung und neuen Siegern zu Ende geht.

Denise Herrmann-Wick, ehemalige Biathletin. © AFP / TOBIAS SCHWARZ

Und wer waren die alten Sieger? Der Januar des abgelaufenen Jahres ist ja schon Bestandteil der Vierschanzen-Tournee des kommenden Jahres. Ich weiß, das mag sich seltsam anhören, wenngleich es auf diesem komplizierten Weg doch sehr deutlich wird, wie unfassbar schnelllebig unsere Zeit und unsere Welt geworden ist. Die Jagd nach Medaillen, nach Ruhm und Ehre und natürlich nach Preisgeldern ist wie ein Hamsterrad, das ständig in Bewegung ist. Erinnerungen sind kaum noch möglich, denn schon warten ja die nächsten Sieger wie etwa bei der Biathlon-Weltmeisterschaft 2024 in Nove Mesto na Moravje in der Tschechischen Republik.

Fragwürdige Sportlerwahlen Aber war da nicht auch in diesem Jahr eine größere Veranstaltung in dieser Sportart? Ja doch. Aufwachen. Diesmal war Oberhof dran mit der Paradevorstellung von Johannes Thingnes Boe (Norwegen) mit seinen drei Goldmedaillen. Dazu das Sensationsgold der italienischen Frauenstaffel. Gekrönt wurde die Veranstaltung vom viel umjubelten WM-Titel von Denise Herrmann-Wick, die danach bei der Wahl zur &bdquo;Sportlerin des Jahres“ in Deutschland noch einmal Platz eins belegte. Zweite wurde Darja Varfolomeev, die fünfmal WM-Gold in der Rhythmischen Gymnastik gewann. Fünfmal ungeschlagen. Mit allen vier Geräten und im Mehrkampf. Fünfmal Gold, fünfmal Weltmeisterin und doch bloß Platz zwei.

Solche Abstimmungen sind und bleiben für mich fragwürdig, wobei in diesem Fall ein doppelter Heimvorteil deutlich wurde. Hermann-Wick kommt aus Deutschland und gewann in Deutschland, während Varfolomeev eine gebürtige Russin ist (der Opa ist Deutscher) und ihre Erfolge in Spanien ziemlich unbeachtet von der Öffentlichkeit feierte, denn ihre Sportart fristet ein Nischendasein, während Biathlon natürlich ein gewaltiges Medien- und Zuschauerinteresse generiert. Ähnlich wie Ski alpin und Skispringen oder Langlauf.

Die Norweger können alles Auch hier fanden in diesem, also dem fast zu Ende gehenden Jahr, Weltmeisterschaften statt. Hand aufs Zuschauerherz: Wieviel ist noch an Erinnerungen daran auf Anhieb abrufbar? Gut, es wird an der jeweiligen Nationalität liegen. Die Slowenen etwa jubelten in Planica, wo sie ihren Heimvorteil gewaltig nutzten. Die Schweizer waren in Courchevel und Meribel bei den Alpinen gut in Schuss und doch war überall der Hit die norwegische Nationalhymne. Scheinbar können die Norweger alles: Biathlon, Skifahren, Skispringen, Eisschnelllaufen und Langlaufen sowieso.

Ausnahmekönner: Erling Haaland. © ANSA / Terje Pedersen

Doch das ist nur ein kleiner Teil aus dem Portfolio eines der erfolgreichsten Sportländer. Mit der Gewissheit der Unvollständigkeit fallen mir ein: Magnus Carlson (Schach), Erling Haaland und Ada Hegeberg (Fußball), Karsten Warholm und die Lauffamilie Ingebrigtsen. Gemessen an der Einwohnerzahl (5,5 Millionen) war etwa bei den Olympischen Sommerspielen 2021 in Tokio nur das Läuferland Jamaika erfolgreicher.

Und natürlich sah man das dann auch bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in diesem Jahr in Budapest, die fast schon wieder in Vergessenheit geraten ist. Norwegen belegte mit vier Medaillen (zweimal Gold, einmal Silber, einmal Bronze) Platz neun der Medaillenwertung. Mit 29 Medaillen, davon 12 in Gold, behauptete die USA wieder Platz eins und vor allem gewann man wieder die Oberhoheit im Sprint zurück. Deutschland ging bei dieser Weltmeisterschaft übrigens leer aus, während auch Italien sich mit vier Medaillen prima schlug.

Vereine und Schulen verlieren Übrigens, weil mir das gerade in den Sinn kommt: In Norwegen sind 3,3 Millionen Menschen in Vereinen organisiert, mithin mehr als die Hälfte der Einwohner. Auch das unterstreicht noch einmal, wie bedeutend die Basis ist und die Bedeutung der Sportvereine. In vielen Ländern ist allerdings ein Rückschritt erkennbar, weil das Ehrenamt überall zunehmend erschwert wird und auch der Sportunterricht an den Schulen nicht die notwendige Aufmerksamkeit erfährt.

Deutschland etwa wird oder ist schon ein Land der Nichtschwimmer geworden und Bademeister gibt es auch nicht mehr viele, was kaum ins Gewicht fällt, weil überall im Land marode Schwimmbäder schließen müssen. Die Gemeinden haben, so wird gerne argumentiert, andere Sorgen. Wichtigere. Als gäbe es etwas Wichtigeres als den Kindern eine gesunde Entwicklung und Ausbildung zu ermöglichen. Auch im Sport. Aber es gibt ja Alternativen, die sich zunehmender Beliebtheit erfreuen. Man kann Max Verstappen spielen, den überragenden Formel-1-Fahrer der vergangenen Saison, der 19 von 22 Rennen gewann. Eine Spielekonsole, vielleicht ein Weihnachtsgeschenk, reicht aus.

In die lausige Kälte müssen sich die Kids mit ihren E-Games auch nicht mehr begeben. Das könnte ja ungesund sein. Mittlerweile gibt es sogar einen Nationen-Cup im Skifahren mit einem sogenannten &bdquo;Twitch-Stream“, in dem der schnellste Run aller Spieler in Kitzbühel, Garmisch, Wengen oder Bormio im Head-to-Head-Vergleich gezeigt wird. Sogar Preisgeld wird ausgelobt. Sportverbände kümmern sich darum, weil sie irrgläubig meinen, damit die Jugend doch noch irgendwie an sich binden zu können. Dabei ist das eher der Anfang vom Ende.

Der Autor: Sigi Heinrich Der vielfach ausgezeichnete Sportjournalist (u.a. Gewinner des Deutschen Fernsehpreises und des Bayrischen Sportpreises), Buchautor und Eurosport-Kommentator der ersten Stunde (seit 1989), widmet sich in seiner Kolumne &bdquo;Sigi´s Spitzen“ der gesamten Vielfalt des Sports. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal ernst und nachdenklich oder bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

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