Hoffnung auf ein eisiges Wunder

Ich brauche diesmal Hilfe, weil es sich um ein Ereignis handelt, das ich, wie vermutlich so viele andere auch, nicht verstehe. Oder auch überhaupt nicht. Es geht um Wunder. Damit meine ich jetzt nicht das zweite Kapitel des Johannesevangeliums, nach dem Jesus bei der Hochzeit in Kana Wasser in Wein verwandelte. Das ist natürlich ein Wunder. Aber wie kann man so etwas Außergewöhnliches und in diesem Fall natürlich besonders reizvolles Geschehen nüchtern bezeichnen? &bdquo;Wikipedia“ muss ran. &bdquo;Als Wunder gilt umgangssprachlich ein Ereignis, dessen Zustandekommen man sich nicht erklären kann, so dass es Verwunderung und Erstaunen auslöst.“ Das soll genügen, um sich vorzubereiten, denn ein Wunder ist jetzt vorhersehbar. Wenn etwa am Ende dieses Jahres in Cortina d`Ampezzo Viererbobs mit 630 Kilogramm (Maximalgewicht mit Besatzung) auf einer Eisrinne zu Tal rasen, dann wird das eines sein. Noch gibt es nur eine Ruine und die Siege der Italiener (Zweierbob) und der Schweizer (Viererbob) von 1956 sind weit entfernte Erinnerung. Betonbruchstücke liegen im Wald. Die Natur hat sich nach der Schließung 2008 längst ein paar Kurven gesichert. Seitdem wurde an der Bahn, auf der es mehrere Todesfälle gegeben hatte, nichts mehr getan, um sie wenigstens noch rudimentär zu erhalten, was im Grunde passte zu vielen Projekten, die für die Olympischen Spiele damals gebaut wurden. Die Skisprunganlage siecht vor sich hin. Dort soll künftig ein Museum entstehen. Selig dem, der daran glaubt. Das Eisstadion, in dem 2026 Curling gespielt werden soll, sieht immer noch so aus, als wäre die Zeit stehen geblieben. Dabei wäre Curling wichtig, denn in diesem Sport sind Medaillen möglich. Das Männerteam Italiens, das Weltklasse ist, lebt und trainiert fast komplett in Cembra (Trient) und die Mixed Olympiasiegerin Stefania Constantini (mit Amos Mosaner) kommt sogar aus Pieve di Cadore, der Heimat des berühmten Malers Tizian. Der Ort ist nur einen Pinselstrich von Cortina entfernt. Vielleicht, wer weiß das schon so genau, soll während der Bauarbeiten für die neue Bobbahn auch das Eisstadion nebenbei generalsaniert werden. Gegen neue Duschen in geräumigen Umkleidekabinen wäre ja nichts einzuwenden. Eventuell müssen auch ein paar Rohre verlegt werden, denn das Eis für Curling ist eine sehr spezielle Unterlage und nicht vergleichbar mit dem Eis etwa für Eishockey. Es ist glatt wie ein Spiegel ohne auch nur mikroskopisch kleinste Unebenheiten. Ein Haar nur etwa auf der Eisfläche bringt einen Curlingstein komplett aus der Richtung. Mit ein paar farbenfrohen Ringen und einem neuen Anstrich an einer Außenwand ist es deshalb nicht getan. Ein großes Prestigeprojekt Aber zurück zu unserem Wunder, auf das wir uns natürlich wahnsinnig freuen. Wann darf man schon Zeuge sein in unserem Leben eines so wahnwitzigen Projektes. Wir können teilhaben an der Geburt einer Bobbahn, die zeitlich fast identisch ist mit dem Zeitraum einer Schwangerschaft. Ende dieses Jahres, also im Dezember 2024 muss der erste Schlitten ins Tal sausen. Es ist natürlich ein Prestigeobjekt von nationaler Tragweite, denn Italiens Regierung wollte sich letztlich nicht die Blöße geben, Gastgeber der Olympischen Spiele zu sein ohne Bob -und Rodelbahn. Auch die Rennen für Skeleton werden ja dort ausgetragen. Innsbruck war als Ersatz im Rennen, St. Moritz auch. Beide Bahnen schlängeln sich allerdings nicht auf italienischem Boden talwärts. Und die mögliche Nutzung der Olympiabahn von 2006 in Cesana kam nie so recht in die engere Wahl, zumal man auch diese wieder aufwändig renovieren müsste. Also doch ein Neubau in Cortina, denn nichts anderes ist das natürlich. Die alten Strukturen sind nur auf dem Papier zu verwenden. Irgendwie ist man auf 81 Millionen Euro Baukosten gekommen für dieses Projekt. Eine Firma aus Parma will laut einer Vergabekommission diese Aufgabe angehen. Andere Firmen hatten zuvor nicht einmal Angebote abgegeben. Erfahrungen im Bau von Sportanlagen oder gar von Bob – und Rodelbahnen hat man nicht. Wie auch. Aber es ist ein Auftrag der Ehre einbringt und am Ende vielleicht doch noch lukrativ wird, denn, Hand aufs Herz, wir ahnen doch alle, dass die veranschlagte Summe für den Auftrag letztlich nicht reichen wird. In der Vergangenheit war bereits von einem dreistelligen Millionenbetrag die Rede gewesen. Dazu kommt noch, dass aufgrund der Verspätung, die unentschuldbar ist (bereits ein paar Monate nach der Vergabe der Spiele 2019 hätte man mit dem Bau oder wenigstens der Planung und Ausschreibung beginnen müssen), dem Projekt schon vor dem ersten Kubikmeter Beton wenig Begeisterung entgegengebracht wird. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) forciert immer noch aufgrund der Unsicherheit einen auswärtigen Austragungsort und auch in Südtirol war man nicht abgeneigt, Innsbruck ins Spiel zu bringen. Vermutlich wäre das letztlich die für alle beste Lösung gewesen, auch wenn sich Italien an den dortigen Kosten für eine Auffrischung (die Rede war von 20 Millionen Euro) hätte beteiligen müssen. Jetzt bleibt dieses Geld immerhin im Lande. Arbeitsplätze werden gesichert und die lokalen Olympiafunktionäre in Cortina jubeln, nachdem sie jahrelang geschlafen haben. Was indes bleibt, ist die Hoffnung auf ein Wunder und vielleicht auf eine ähnliche Rekordbauzeit wie etwa bei der neuen Morandi-Brücke in Genua, die bereits zwei Jahre nach ihrem Einsturz wieder für den Verkehr freigegeben wurde. Diesmal ist es bloß eine Eisrinne, die gebaut werden muss. Noch ist der Spatenstich freilich nicht erfolgt, noch ist kein Betonmischer unterwegs, derweil sich die Uhr unerbittlich Sekunde für Sekunde weiterdreht. Und wenn man im wahrsten Sinne des Wortes die Kurve nicht kriegt? Es wäre nicht das erste Mal in der olympischen Geschichte. Schon 1960 wurde in Squaw Valley keine Bob – und Rodelbahn (Skeleton gab es damals noch nicht) errichtet. Stattdessen wurden dafür Weltmeisterschaften ausgetragen: In Cortina d´Ampezzo. Vielleicht ist das ja ein gutes Omen. Irgendwie. Zum Autor: Sigi Heinrich Der vielfach ausgezeichnete Sportjournalist (u.a. Gewinner des Deutschen Fernsehpreises und des Bayerischen Sportpreises), Buchautor und Eurosport-Kommentator der ersten Stunde (seit 1989) widmet sich in seiner Kolumne &bdquo;Sigi´s Spitzen“ der gesamten Vielfalt des Sports. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal ernst und nachdenklich oder bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

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