Mit dem Doppelsechser in die Box

Von Sigi Heinrich

Das Leben ist ein ständiger Prozess der Anpassung, wobei man vieles auch als Bereicherung sehen kann. Das gilt natürlich auch für die Sprache, die immer wieder neue Kreationen hervorbringt. Auch der Sport bleibt davon nicht verschont, schon gar nicht der Fußball, wie man in diesen Tagen während der Europameisterschaft so wunderbar beobachten kann. Die Kollegen und Kolleginnen (ich weigere mich mit Gendersternchen zu arbeiten) am Mikrofon entführen uns quasi in eine neue Welt, die man sich erst erschließen muss. Schließlich sind viele von uns mit ganz anderen Begriffen aufgewachsen. Der Strafraum wird zur &bdquo;Box“ Ein erstes Beispiel gefällig: Früher gab es ganz einfach den Strafraum. Hört sich ja schon irgendwie gefährlich an. Ist nämlich der Ball in eben diesem Bereich, wird es tatsächlich spannend, denn dann ist das Tor, in das dieser Ball soll, nicht mehr weit weg und die Chance wird mit zunehmender Annäherung immer größer. Der Strafraum ist also das erste Ziel, das man in Angriff nehmen muss. Aber jetzt gibt es ihn plötzlich nicht mehr. Ich vernehme das Wort &bdquo;Box“. Wie hässlich ist das denn? Der Strafraum eine Box! In einer solchen Box stehen, so dachte ich bisher, höchstens Flaschen, sauber aufgeräumt in Reih und Glied (gut, kann im Fußball tatsächlich mal vorkommen), aber jetzt ist das ganze Geviert eben kein Strafraum mehr. Damit verändert sich vieles.

Früher gab es noch Torhüter, denen man eine glänzende Strafraumbeherrschung attestierte. Gut, früher kam der Ball nicht wie ein Brummkreisel in eben diesen Bereich geflogen, sondern stangengerade und war somit leichter zu berechnen. Jetzt dreht sich die Kugel mitunter plötzlich vom Torhüter weg und er stolpert hinein in eine Traube von Mitspielern und Gegnern und sieht dabei mitunter ziemlich hilflos aus. Das hat zur Folge, dass er auf seiner Linie stehen bleibt, gerade so, als würde diese ihn magnetisch anziehen. Dann springt und hüpft er und präsentiert tolle Flugnummern. Dann wird er gelobt, wenn der Ball nicht im Netz landet. Dann ist er ein guter Torhüter, obwohl er die Gefahr schon früher hätte bannen können, ja müssen.

Man kann und vielleicht muss man als Zuschauer das sogar verstehen, denn auch sprachlich ist es ja eine Zumutung, wenn man sagen müsste, dieser oder jener Schlussmann ist ein toller &bdquo;Boxbeherrscher“. Das nämlich wäre oder ist im Grunde die Fortsetzung der Tatsache, dass der Strafraum zu einer irgendwie beliebigen Box herabgestuft wurde. Jetzt also geht es um das Eindringen in die Box, was vielfach sogar vielen Teams gelingt. Aber dann scheint es da eine panische Angst zu geben, als würde diese Box eine Schlangengrube sein mit giftigen und unangenehmen Reptilien. Deshalb spielt man schnell den Ball wieder zurück vor die Box, mitunter war sogar zu beobachten, dass er sogar plötzlich in einem Rausch der Rückpässe an und in der eigenen Box landet, wo dann der eigene &bdquo;Boxhüter“ plötzlich Fußball spielen muss, was nicht jedem so richtig gelingt. Dann beginnt ein neuer Versuch, die gegnerische Box mit dem Ball zu erreichen, also in Tornähe zu kommen. Und auch da hat sich unglaublich viel getan, denn die Möglichkeiten, dies zu schaffen, sind vielfältig geworden, je nach Trainerphilosophie. Die Stunde der Supertaktiker Libero und Vorstopper sind längst verstoßen und aufgesogen worden von verschiedenen Ketten, die auf dem Spielfeld ausgebreitet werden. Unheimlich beliebt scheint dabei die Dreierkette geworden zu sein, obwohl sie nicht jedem Team gut zu Gesicht steht. Siehe Deutschland. Da fehlte immer irgendwo irgendwer, um die Kette auch so dicht zu machen wie mein Türschloss. Das wird dann in der Halbzeitpause, die zum Glück immer noch so heißt, gnadenlos analysiert mit visueller Technik. Es schlägt die Stunde der Supertaktiker, der Experten, die zum Teil früher, als sie noch aktiv waren, den Ball oft nur in einem Akt der Hilflosigkeit in die gegnerische Hälfte gedroschen haben. Aber die Vergangenheit ruht, jetzt sind die Zahlenverdreher am Werk. Franz Beckenbauer sagte vor dem WM-Finale 1990 einen legendären Satz. © AFP / STAFF

Der &bdquo;Sechser“ wurde geboren und hat schon vom &bdquo;Doppelsechser“ Verstärkung bekommen. Auch die &bdquo;Doppelneun“ wurde schon kreiert, wenn gerade mal kein nomineller Mittelstürmer zur Verfügung steht, der normalerweise und traditionell die Nummer neun auf dem Rücken trägt. Das war dann immer einfach, denn jeder wusste: Das ist der Mann, der letztendlich aufs Tor schießen muss, der Spieler (Spielerin), dem losgelöst von jeder Kette jeder Freiraum gewährt wird. Die Aufgabe der Trainer wird somit auch immer schwieriger, denn natürlich erwarten die Fans (gerne auch weiblich), dass die Taktik passt. So einfach wie bei Franz Beckenbauer dereinst ist es eben nicht mehr. &bdquo;Geht`s raus und spielt`s Fußball“, sagte er vor dem Endspiel in Rom und wurde Weltmeister. Vielleicht war der &bdquo;Kaiser“ der größte Philosoph unter allen Trainern, die es mit Catenaccio (Helenio Herrera aus Argentinien) oder dem Schweizer Riegel (Karl Rappan aus Österreich), mit Kettenrasseln und rotierenden Verteidigern versucht haben. Beckenbauer hat uns im Grunde die Einfachheit dieses Spieles bewusst gemacht und möglicherweise ist dieses Spiel auch deshalb letztlich so populär geworden, weil es lange leicht verständlich war. Manchmal ist weniger mehr. Oft sogar.

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