Ein Schritt zum Sommermärchen

Es gibt Mechanismen, die funktionieren augenscheinlich fast immer. Folgt einer Pechserie ein Glücksmoment, ist alles, was zuvor geschah, plötzlich nur noch schemenhaft erkennbar. Fast schon vergessen.

Das war bereits in der Schule so. Folgte einer reichlichen Anzahl schlechter Noten (und die gab es) plötzlich ein gutes bis sogar sehr gutes Ergebnis, hörte das Lob gar nicht mehr auf. Toller Bub, gut gemacht. Und dann folgte der Standardsatz: &bdquo;Wir haben es ja immer gewusst….“ Was eigentlich? Klar. Alles vorher waren nur Ausreißer im negativen Bereich. Das gute Resultat hingegen zeigt, was natürlich längst vermutet worden war: Die Talente waren nur für eine kurze Phase verschüttet gewesen. Es war eben immer schon so, dass man sich gerne in die eigene Tasche lügt, weil es einfach auch bequem ist. Man ist ja lieber nett und adrett als immer so negativ. Irgendwie. Deshalb sind wir jetzt fast schon Europameister. Im Fußball. Denn wer bitte soll denn diese Ansammlung von Künstlern, die Frankreich an die Wand gespielt hat, bei den Titelkämpfen jetzt noch stoppen? Was vorher war, ist Geschichte. Keine schöne natürlich. Niederlagen am laufenden Band. Sogar gegen Österreich. Vorbei. Endlich. Dank Julian Nagelsmann, dem neuen Bundestrainer, den der FC Bayern noch vor gar nicht so langer Zeit für nicht fähig befand und ihn durch Thomas Tuchel ersetzte, den sie in München jetzt auch wieder für nicht fähig befinden. Nach einem Sieg gegen Frankreich herrscht in Deutschland bereits wieder Jubelstimmung. © APA/afp / FRANCK FIFE

Aber das ist eine andere Baustelle. Obwohl…. Tuchel wäre nach dieser Saison frei und könnte Nachfolger von Nagelsmann werden, der nur einen Vertrag hat bis zum Ende der Europameisterschaft. Aber genau das ist jetzt, weil wir gerade so toll gespielt haben, kroosmäßig quasi, die Crux, denn nun hat der neue, junge Coach ja dieses Zeichen gegen Frankreich gesetzt. Er hat gewonnen mit einer Maxime, die ein wenig an Franz Beckenbauer erinnert, der einst bei der Weltmeisterschaft in Italien folgenden Satz prägte, der danach die gesamte Taktik in der ganzen Welt prägte: &bdquo;Geht´s raus und spielt´s Fußball.“ Das Ergebnis dieser klaren Anweisung, die jeder Spieler sofort verstand, ist bekannt. Deutschland wurde Weltmeister. Nagelsmann bediente sich natürlich einer geschliffeneren Ausdrucksweise. &bdquo;Kicken sollen sie, einfach nur kicken.“ Mit Freude natürlich. Gesagt getan.

Geld schlägt Tradition Jetzt will man natürlich dieses Momentum festhalten, damit es uns auf immer und ewig erhalten bleibt. Das heißt schlicht und einfach, dass der Deutsche Fußball-Bund (DFB) schon jetzt am neuen Trainer baggert, damit dieser auch nach der Europameisterschaft die Auswahl noch nach seinen Ideen kicken lassen kann. Nach nur einem guten Spiel gegen einen nicht sonderlich inspirierten Gegner will man jetzt die gesamte Zukunft eintüten. Diese Reaktion ist ziemlich typisch für viele Verbände und geprägt von den Fehlern der Vergangenheit. Für Nagelsmann freilich läuft es gut.

Er kann nun pokern, auch wenn das nächste Match gegen die Niederlande neue Karten mit sich bringen kann. Doch daran denkt derzeit niemand. Vermutlich auch nicht der Präsident des DFB, Bernd Neuendorf, der schon einmal vor einer großen Veranstaltung, der WM in Katar, den gravierenden Fehler beging und den Vertrag mit dem damaligen Bundestrainer Joachim Löw verlängert hat. Ohne Not und ohne vielleicht das Ergebnis der Spiele in der Wüste abzuwarten. Lehren daraus zu ziehen, wäre jetzt das Gebot der Stunde, doch der Sieg gegen Frankreich scheint die Sinne etwas vernebelt zu haben. Am liebsten wäre es dem DFB wohl, wenn beim Match gegen die Niederlande die Tinte unter der Vertragsverlängerung mit Nagelsmann schon trocken wäre. Der Verband verfügt nämlich jetzt endlich wieder über eine prall gefüllte Schatulle, was den Übermut beflügelt. Zumindest in drei Jahren, wenn dann der US-Gigant &bdquo;Nike“ einsteigt und den bisherigen Ausrüster &bdquo;Adidas“ ablöst, klingeln die Kassen. Das neue DFB-Trikot sorgte für viele Reaktionen. Ab 2027 wird Nike für die „Wäsche“ der Deutschen zuständig sein. © APA/afp / KIRILL KUDRYAVTSEV

Lassen wir die pharisäerhaften Reaktionen der Politiker, die sich darüber beklagten, dass eine deutsche Traditionsfirma abgelöst wird (was in der Leichtathletik schon seit Jahren so ist) mal beiseite, hat der DFB schon deshalb wohl so handeln müssen, weil er wirtschaftlich in der Klemme sitzt. Präsident Neuendorf, ein ehemaliger Politiker, sagte schlicht dazu: &bdquo;Tradition zahlt keine Rechnungen.“ Das Angebot aus den USA, dem Vernehmen nach wohl doppelt so hoch wie jenes aus Herzogenaurach, kam deshalb zur rechten Zeit. Nagelsmann könnte das nun weidlich ausnutzen und einen Knaller-Kontrakt für sich fixieren, weil das Team unter seiner Regie die Versäumnisse der Vergangenheit in 90 Spielminuten in den Raum der Vergessenheit gelenkt hat. Auch dank kluger Personalrochaden.

Pünktlich zum Frühlingsanfang haben zwei schöne Tore, ballsichere Kombinationen und eine funktionierende Vierkette dazu geführt, dass den Kickern in Deutschland eine freundlichere Stimmung als bisher entgegenschlägt. Natürlich wird schon wieder, weil ja gerne übertrieben wird in Stunden auch einer kurzen Glückseligkeit, die nächste Jahreszeit ins Spiel gebracht. Ein Sommermärchen soll wieder kommen. Vorfreude macht sich bemerkbar auf die Spiele mit den vielen Teams aus Europa. Und ja, man sollte sich durchaus auch mitreißen lassen, zumal eine endlich mal gelungene Prüfung durchaus eine gute Basis sein kann für weitere ordentliche Noten. Auch wenn das zuletzt gegen Frankreich nur ein Test war. Und nicht mehr.

Zum Autor: Sigi Heinrich Der vielfach ausgezeichnete Sportjournalist (u.a. Gewinner des Deutschen Fernsehpreises und des Bayerischen Sportpreises), Buchautor und Eurosport-Kommentator der ersten Stunde (seit 1989) widmet sich in seiner Kolumne &bdquo;Sigi´s Spitzen“ der gesamten Vielfalt des Sports. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal nachdenklich oder auch bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

Fußball

Italien

Internationale Ligen

International

Wintersport

Tennis

Weitere Sportarten

Motorsport

Radsport

Wassersport

Events

Favoriten

Ein Schritt zum Sommermärchen

Empfehlungen

Kommentare (0)