Warum mir die Lust auf den Stadionbesuch vergangen ist

Vielleicht, ich weiß es nicht genau, wenngleich ich schon so eine Ahnung habe, vielleicht also ist es bereits Bequemlichkeit, die mich mittlerweile daran hindert, zu großen Sportveranstaltungen als Zuschauer zu gehen. Dabei war ich als jugendlicher Heranwachsender regelmäßig im Stadion. Dreimal hintereinander bei den Löwen in München, weil drei meiner Kumpels Fans von 1860 München waren und dann einmal bei den Bayern, meinem favorisierten Club. Da mussten dann meine Freunde natürlich auch in den sauren Fußballapfel beißen. Im Weichzeichner der Erinnerungen stelle ich fest: Es war großartig. Wir vier sind immer mit dem Zug in die bayerische Landeshauptstadt gefahren, danach gab es noch tröpfchenweise Gerstensaft. Es war alles harmlos im Vergleich zur Gegenwart.

Jetzt sehe ich Bilder, die mich frösteln lassen, die mich sogar abschrecken und erschrecken. Über den Entscheidungsspielen der vergangenen Wochen liegt längst ein gewaltiger Schatten. In ganz Europa haben sich viele Fans zu einem gewaltbereiten Mob entwickelt, der außer Rand und Band geraten ist. Ordnungskräfte sind längst überfordert, wenn etwa in Kaiserlautern brennende Fackeln auf den Rasen geschleudert werden. Sogenannte Pyrotechnik kommt zum Einsatz. Gut, sag ich mir, die Fans sollen und müssen vielleicht ihre Emotionen loswerden, im Siegesrausch oder als Frustbewältigung. Dafür habe ich irgendwie auch Verständnis. Bis zu einem gewissen Grad. Doch die Schmerzgrenze der Jubelarien ist mittlerweile längst überschritten worden. 453 Tote Können Erinnerungen helfen, um gewaltbereite und schier zu allem bereite sogenannte Fans zur Vernunft zu bringen? 453. Das ist die Zahl der Toten bei drei Fußballspielen. Vierhundertdreiundfünfzig. In Lima starben 1964 bei einem Qualifikationsspiel zu den Olympischen Spielen in Tokio zwischen Peru und Argentinien 318 Menschen. In Peru wurde danach sogar der Ausnahmezustand verhängt. Dramatische Szenen spielten sich auch 1985 in Brüssel ab. Im baufälligen Heysel-Stadion kamen, ausgelöst von betrunkenen Fans aus Liverpool, 39 Fans ums Leben. Es waren hauptsächlich Juve-Anhänger. Feuerwerkskörper wurden abgebrannt, Steine flogen, Mauern wurden eingerissen. Juve gewann. Der Fußball verlor.

Am 29. Mai 1985 verloren 39 Personen im Heysel-Stadion ihr Leben. © ANSA / ANSA/ARCHIVIO / XX

Vier Jahre später wurden im Hillsborough-Stadion in Schottland 96 Menschen zu Tode gequetscht. 2001 starb noch ein Fan an den Folgen seiner damals erlittenen Verletzungen. Es war ein Halbfinale im FA-Cup zwischen Liverpool und Nottingham Forest. Zu früh wurde ein Tor geöffnet. Die Veranstalter waren überfordert. Und sie scheinen es in diesen Tagen immer noch zu sein, wie das Champions-League-Finale in Paris zwischen Real Madrid und dem FC Liverpool gezeigt hat. Chaos herrschte vor dem Stadion, aufgeheizt war die Stimmung. Das Spiel konnte erst mit 36 Minuten Verspätung angepfiffen werden. Die Pariser Polizei setzte Tränengas ein, auch gegen Familien mit ihren Kindern, die nicht ins Stade de France durften, obwohl sie gültige Eintrittskarten hatten.

Diebstähle, sexuelle Belästigung, Polizeigewalt. Eine fürchterliche Mischung waberte um die Austragung des Finales. Dabei wollten die Franzosen diese als Generalprobe für die Olympischen Spiele 2024 sehen und hatten sofort reagiert, als St Petersburg dieses Endspiel nach dem Angriff Russland auf die Ukraine entzogen wurde. Frankreich hat sich blamiert Frankreich hat die Chance nicht genutzt. Ganz im Gegenteil. Der olympische Testlauf endete als Blamage. Innenminister Gérald Darmanin hat sich mittlerweile entschuldigt. 2700 britische Fans, die gültige Eintrittskarten hatten, sollen &bdquo;zügig“ entschädigt werden, wie es hieß. Für den französischen Präsidenten Emmanuel Macron kam dieses Fiasko zur Unzeit. Eine Woche vor der ersten Runde der Parlamentswahlen muss er sich neben vielen anderen Baustellen, die er momentan hat, auch mit der Aufarbeitung der Ausschreitungen vor dem Stade de France befassen. Seine Mannschaft ist angezählt. Er verliert an Boden.

Jetzt erst wird das wahre Ausmaß dieser Chaosveranstaltung deutlich. Plötzlich wird wieder einmal klar, wie der Sport durchaus politische Geschehnisse beeinflussen kann. Die Mär von der Geschichte, dass beides nichts miteinander zu tun hat, ist längst überholt. Und zu allem Übel vergeht unsereinem immer mehr der Spaß am Besuch von Spielen, die angeblich von großer Bedeutung sein sollen. Aber es gibt Alternativen. Ein Besuch bei kleineren Sportveranstaltungen etwa verspricht Entspannung pur. Ein Vorschlag meinerseits für das kommende Wochenende: Der Boulder-Weltcup in der Vertikale in Brixen.

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Mit viel Vergnügen pilgerte unser Kolumnist Sigi Heinrich früher regelmäßig zu Fußballspielen, um „seinen“ Verein anzufeuern. Mittlerweile ist ihm die Lust auf solche Besuche vergangen.

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