Kolumne | Umdenken mit Tamara Lunger

Das Tourenbuch liegt aufgeschlagen vor uns. Und wir haben einiges vor wieder in diesem Jahr. Aber gemach. Nur nicht hetzen. Auch bei der Planung geht es gemächlich zu, so wie grundsätzlich bei unseren Wanderungen in den Bergen Südtirols. Wir lassen uns Zeit und fallen damit fast schon aus eben jener. Wann immer ich Nachrichten aus der alpinen Welt aufschnappe: Es geht fast immer um Geschwindigkeit. Schnell rauf, schnell wieder runter. Nur zwei von unzähligen Beispielen: Der Schweizer Nicolas Hojac und sein österreichischer Kletterkumpel Phillip Brugger haben kürzlich die markanten Schweizer Berge Eiger, Mönch und Jungfrau in 15 Stunden und genau 30 Minuten bezwungen. Man könnte sagen, es war an der Zeit, denn der bisherige Rekord von Uli Steck und Stephan Siegrist war schon 21 Jahre alt und wurde nun um zehn Stunden unterboten. Dabei starteten die neuen Rekordhalter mitten in der Nacht und durchquerten so die Eiger-Nordwand in etwas mehr als fünf Stunden komplett im Dunkeln. Oben angekommen gab es fünf Minuten Pause. Der zweite Berg wartete. Drei Nordwände schafften die beiden in weniger als einem Tag. Und weiter geht die wilde Jagd. Diesmal -natürlich- auch auf den Mount Everest, dem mit 8848 Meter höchsten Berg der Welt, der schon deshalb die Menschen elektrisiert. Sieben Tage benötigten vier Briten. Der Clou an der Sache. Die Uhr startete in London. Von dort ging es nach Kathmandu. Dort wartete schon vermutlich mit laufenden Rotoren ein Hubschrauber, der das Quartett ins Basislager flog. Kurz umziehen und schon ging`s los. Alle kamen heil wieder herunter. Schön. Etwa 330, die es auch versucht haben in den letzten Jahren, gelang das nicht. Mittlerweile gibt es sogar schon Leichenbergungsteams. Die Geschäfte blühen dennoch weiterhin, denn natürlich wurde auch der Tripp der Jungs aus England professionell organisiert, wozu auch die Vorbereitung gehörte. Alle schliefen zuvor in Hypoxiezelten, wo die dünne Luft vor Ort simuliert wird und sie inhalierten das Edelgas Xenon, das helfen soll, die Höhenkrankheit zu vermeiden oder zumindest die Symptome abzuschwächen. Die fatale Nachricht ist im Beipackzettel der Tour: Jeder, der will und das nötige Kleingeld hat, kann auf den Mount Everest. Wir packen nur Wasser ein, eine Salami, Käse und Schüttelbrot. Bis 2500 Meter reicht das. Zur Vorbereitung schlafen wir zuhause in unserem eigenen Bett. Wir betrachten die Berge als Hilfe für die Entschleunigung in unserer hektischen Welt und freuen uns, wenn die Sonne aufgeht, die uns mit ihrem roten Feuerball immer wieder deutlich macht, dass sie uns das Leben spendet. Ich finde, dass Berge und Rekordjagden wie Feuer und Eis sind. Es ist eine fatale Kombination, die sich nicht verträgt. Aber Reinhold Messner hat doch…. Er hat die 14 Achttausender dieser Welt als Erster bestiegen, ohne Sauerstoff mitzunehmen. Er hat die Gipfel erreicht. Geschwindigkeit spielte keine Rolle. Die Tat alleine zählte. Ob man das nun als Rekord bezeichnet oder nicht, ist Anschauungssache. Eher nicht. Das kleine Glück Szenenwechsel. Ich sehe einen Film mit Tamara Lunger aus dem Eggental, deren Namen ich bislang eigentlich auch nur mit besonderen Expeditionen verbunden habe. Sie war die jüngste Frau auf dem Lhotse (8516 Meter), erreichte später auch den Gipfel des K2 (8611 Meter), den sie später auch im Winter bezwingen wollte, obwohl er der wohl schwierigste Achttausender ist. Es war ein vermutlich für sie einschneidendes Erlebnis 2021. Es gab vier Tote. Die Liebe zu den Bergen hat die Südtirolern deshalb nicht verloren und kehrt vielleicht gerade deshalb jetzt zu ihrem Ursprung zurück. Sie steht auf einem Gipfel, juchzt und schaut berührt und fast andächtig in die Landschaft, die sich vor ihr öffnet. Sie ist in Albanien. Dort gibt es keine Gipfel, die über 2800 Meter hoch sind. Für Lunger sind dies normalerweise kleine Hügel. Kaum der Rede wert eigentlich. Und doch ist die Extremalpinisten augenscheinlich hier mit sich im Reinen. Sie ist für &bdquo;Servus-TV“ auf einer Tour unterwegs von den Bergen zum Meer und sagt bedeutungsschwere Sätze wie: &bdquo;Ich möchte das Kind in mir festhalten.“ Und so geht das weiter. &bdquo;Es ist schön, so entspannt zu sein“, meint sie noch und fügt hinzu, dass sie diese Jagd nach Höhenmetern und Extremen derzeit nicht brauche. Die Berge haben Tamara Lunger wieder oder umgekehrt: Sie hat die Berge wieder neu entdeckt, sie wieder gefunden. Ihre Kraft, ihren Zauber und das vor allem ohne in sich zu spüren, dass sie sich möglichst schnell oder möglichst spektakulär in ihnen bewegen muss. Ruhig geht sie. Der Blick wandert immer wieder nach links und nach rechts. Sie bückt sich, berührt Pflanzen, setzt sich auf einen Baumstumpf und schweigt. Man hat als Betrachter den Eindruck, dass sie in diesem Moment glücklicher ist als seinerzeit auf den windumtosten Gipfeln im Himalaya, wo sie etwa die Winterbesteigung seinerzeit des Nanga Parbat wegen gesundheitlicher Probleme abbrechen musste. &bdquo;Der Traum verwandelte sich in einen Albtraum“, erzählt sie später. In Albanien schnappt sie sich noch ihr Mountainbike, fährt auf einem wirklich menschenleeren Trail und paddelt dann noch ein paar Kilometer auf der Vjosa, dem längsten Fluss Albaniens, der von einer geplanten Staumauer dank engagierter Umweltschützer verschont geblieben ist. Am Ende klettert sie wieder. Logisch. Zehn Meter direkt über dem Mittelmeer oder sichert von unten ihre Kollegin. Dabei umspült das Mittelmeer ihre Beine. Das, so scheint es, ja das ist das wahre Leben. Dennoch weiß ich, dass den Menschen ihr Bestreben nach Rekorden, wo auch immer, nicht auszutreiben ist. Fraglich ist nur, ob wir jeden sogenannten Rekord auch immer medial erwähnen müssen. Sollte es in den Bergen nicht jedem für sich persönlich vorbehalten bleiben, diese zu nutzen wie er will, ohne dass die Öffentlichkeit davon immer Notiz nehmen muss? Tamara Lunger hat jedenfalls einen tollen Beitrag zum Umdenken geleistet, auch weil sie weiß, wie die andere Bergseite aussieht. Zum Autor Sigi Heinrich Der vielfach prämierte Sportjournalist (u.a. Gewinner des Deutschen Fernsehpreises, des Bayerischen Sportpreises und nominiert für den renommierten Grimme-Preis), Buchautor, langjähriger Sportredakteur der Süddeutschen Zeitung und seit 1989 Kommentator bei Eurosport, widmet sich in seiner wöchentlichen Kolumne der gesamten Vielfalt des Sports und wildert gerne auch in fremden Gefilden. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal nachdenklich oder bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

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