Deutschlands WM-Aus: Eine schonungslose Analyse

Es ist jetzt nicht die Zeit, mit dem dicken Vorschlaghammer auf alles draufzuhauen, was sich mit oder ohne Fußball in Deutschland bewegt. Den Protagonisten der sportlichen Niederlage wird eine schonungslose Aufarbeitung ihrer Pleite sowieso nicht erspart bleiben. Und auch da darf es keine Tabuthemen geben.

Das geht schon ganz hinten los beim einsamsten Mann im Team, dem Torhüter. Manuel Neuer hat viel von seiner Ausstrahlung eingebüßt. Zu noch immer glänzenden Reflexen gesellten sich Fehler, die den Gegner zum erfolgreichen Nachschuss einluden. Das zweite Tor im ersten Spiel gegen Japan hätte ein Neuer in Bestform verhindert. Aber Neuer war vor der WM an der linken Schulter verletzt. Ihm fehlte Spielpraxis. Bundestrainer Hansi Flick setzte trotzdem auf den Kapitän, obwohl er vor allem mit dem zuletzt auch auf europäischer Ebene überragenden Kevin Trapp eine Alternative gehabt hätte.

Wackelige Abwehr Die Abwehr war ein Flickenteppich. In drei WM-Spielen setzte der deutsche Bundestrainer auf der rechten Seite vier verschiedene Abwehrspieler ein. Links spielte mit Raum ein viel zu offensiver und augenscheinlich auch orientierungsloser Akteur. Noch bei der WM gab es keine klare Formation neben Antonio Rüdiger, der dann zuletzt auch noch kleine Schwächen zeigte. Das ist ein massives Versäumnis des Bundestrainers, der nicht mal beim letzten Test gegen den Oman eine mögliche Stammformation auflaufen ließ, um diese ein wenig einspielen zu lassen. Aber mit Nico Schlotterbeck und vor allem Niklas Süle sollte eine DFB-Elf künftig nicht mehr geballt im Abwehrverbund auflaufen.

Niklas Süle (rechts) war ein Unsicherheitsfaktor. © APA/afp / GLYN KIRK

Schlotterbeck neigt zu Leichtsinn und Überheblichkeit und Süle ist unbeweglich und hat das Gefühl für ein gutes Stellungsspiel verloren. Das Gegentor gegen Spanien geht auch auf seine Kappe. Natürlich kann das immer passieren. Die Stürmer sind ja keine Luftpumpen. Aber Süle kam einfach wieder einmal zu spät, um den Torschuss zu verhindern.

Kein Weltklasse-Mittelfeld Im Mittelfeld tummelt sich die eigentliche deutsche Kicker-Elite. Dass Ilkay Gündogan angeblich überredet werden musste, noch einmal anzutreten, ging zu Lasten des großen Talents Kai Havertz, der nie in der ersten Aufstellung zu finden war. Der von Flick vor der WM bis in den Himmel gelobte Mario Götze kam nie zum Einsatz. Auch der Rammbock Leon Goretzka kam nie wie erhofft in Schwung. Und derjenige, der als berühmter &bdquo;Sechser“ das Mittelfeld nach hinten hin absichern sollte, Joshua Kimmich, sieht sich längst mehr als die Königsachse im deutschen Team. Er tummelt sich in Regionen, in denen bessere Spieler sind. Aber das scheint sein Selbstverständnis zu sein und Flick ließ das zu. Dabei wäre und war er ein genialer rechter Verteidiger. Gegen Costa Rica begann er auch auf seiner alten Position. Eine Halbzeit.

Auch er schwächelt: Joshua Kimmich. © APA/afp / GLYN KIRK

Immerhin gab es auch einen Sonnenschein. Jamal Musiala. Es konnte nicht seine Weltmeisterschaft werden, weil das Team ihm das nicht ermöglichte. Aber um den erst 19-Jährigen herum wird Flick das Team für die Europameisterschaft formen müssen. Mit ein paar Pfostenschüssen hatte er auch noch Pech. Und er grämte sich darüber, verzweifelte schier und dribbelte doch weiter wie ein junger Gott. Deutschland hat einen wie Messi, dem man in Zukunft alle Freiheiten geben muss. Musiala ist zudem einer, der den Sturm verstärkt. Diesmal klappte es nicht wie gewünscht.

Müller hat in vier Turnieren kein Tor geschossen Das lag auch an der Personalie Thomas Müller. Wir alle, das setze ich mal voraus, lieben diesen Müller. Diesen unberechenbaren, sympathischen und kommunikativen Spieler. Aber Müller war vor der Weltmeisterschaft beim FC Bayern nicht im Einsatz. Auch ihm fehlte direkte Spielpraxis vor dem großen Höhepunkt. Jetzt hat er in einem emotionalen Interview nach dem Spiel gegen Costa Rica seinen Rücktritt quasi bekannt gegeben. Er hat in den letzten vier großen Turnieren für den DFB als Stürmer übrigens kein Tor geschossen und trotzdem war er immer in der Stammformation bei Hansi Flick, der sich nicht durchringen konnte, zuletzt stärker auf Niclas Füllkrug zu setzen, einem Mittelstürmer alter Bauart, dessen Qualitäten nicht optimal genutzt wurden.

Hat seinen Rücktritt quasi bekanntgegeben: Thomas Müller. © APA/afp / GLYN KIRK

Und er schaffte es auch nicht, seinen auserwählten Spielern eine Mentalität einzuimpfen, die über 90 Minuten nur das Ziel kennt, sich zu verausgaben, bis der Akku dampft. Bei vielen war am Ende der Spiele immer noch viel Reserve abrufbar. Da kennt man die deutsche Mannschaft aus der Vergangenheit anders. Die so sehr respektierte Turniermannschaft, die Angst und Schrecken verbreitet hat, ist seit acht Jahren schleichend in der Zweitklassigkeit angekommen

Füllkrug ist der einzige Gewinner Der Bremer Füllkrug ist vermutlich der einzige deutsche Gewinner dieser WM, die gefühlt jetzt nur Verlierer kennt. Dazu gehören auch die Verantwortlichen des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), allen voran der Geschäftsführer aller Nationalmannschaften in Deutschland und der DFB-Akademie, Oliver Bierhoff. Aber glauben Sie mir eines aus der Erfahrung heraus: Seine Position ist weiterhin so sicher wie die Lorelei, der Schieferfelsen am rechten Rheinufer bei Sankt Goarshausen. Unerschütterlich und unverrückbar. Und natürlich wird auch Hansi Flick weitermachen. Schließlich steht die Europameisterschaft in Deutschland vor der Tür. Und das ist gut so.

Aber Flick muss sich verändern. Der schier harmoniesüchtige Bundestrainer, ein Freund und Trainer, wird die Zügel anziehen müssen und er wird lernen müssen, dass er es nicht allen recht machen kann. Zudem hat er immer noch das grausame Erbe der Vertragsverlängerung von Joachim Löw nach dem Vorrundenaus in Russland 2018 zu bewältigen. Zu lange Löw, zu lange Niedergang. Es war eine der größten Fehlentscheidungen für den deutschen Fußball, die übrigens Bierhoff verantworten muss. Und ob man in Zukunft neben dem Mannschaftshotel, wie immer vom Feinsten und meist besser als alles, was die Konkurrenz zu bieten hat, auch noch ein Hotel für die Familien und Spielerfrauen buchen muss, darf ebenso hinterfragt werden, wie die Tatsache, wie weit sich der DFB künftig in politische und gesellschaftliche Fragen einmischen soll. Es ist Zeit für eine Zeitenwende im deutschen Fußball. Allerhöchste Zeit. Wenn es denn nicht schon zu spät ist.

Zum Autor: Sigi Heinrich Der renommierte Sportjournalist und Sportlehrer, Buchautor und vielfach ausgezeichneter Eurosport-Kommentator (u.a. Gewinner des Deutschen Fernsehpreises und des Bayerischen Fernsehpreises) widmet sich in seiner Kolumne &bdquo;Sigi´s Spitzen“ der gesamten Vielfalt des Sports. Und auch Themen außerhalb seines gewohnten Metiers beschäftigen ihn. Mal sehr ernsthaft, oft auch mit einem verschmitzten Augenzwinkern und mitunter auch bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

Eishockey

Internationale Ligen

Wintersport

Fußball

Italien

Internationale Ligen

International

Tennis

Weitere Sportarten

Motorsport

Radsport

Wassersport

Events

Favoriten

Deutschlands WM-Aus: Eine schonungslose Analyse

Empfehlungen

Kommentare (0)