Doping in Indien: Massenflucht vor Kontrollen

Wäre es nicht so traurig, könnte man fast darüber lachen. Oder schmunzeln zumindest, denn die folgende Situation ist skurril, einzigartig, seltsam, aber bedauerlicherweise auch ein Schlag ins Gesicht all jener, die tatsächlich naiv meinten, die Sache mit Doping und so im Sport, die habe sich allmählich jetzt erledigt, weil nur selten Meldungen auftauchen. Es ist ein gewaltiger Trugschluss. Bei Landesmeisterschaften im indischen Bundesstaat Delhi passierte folgendes: Von den ursprünglich acht für das 100m-Finale qualifizierten Athleten war letztlich nur einer am Start. Der offizielle Grund waren Zerrungen, Krämpfe, Unpässlichkeiten just zum Zeitpunkt des für die meisten wichtigsten Rennens im Jahr. Glücklicherweise redete der einzige verbliebene Teilnehmer, Lalit Kumar, nicht um den heißen Brei herum. &bdquo;Ich hätte mich gefreut, gegen die besten Sportler anzutreten. Aber keiner kam. Alle hatten Angst vor Dopingkontrollen.“ Doch das war noch nicht alles. Ein Augenzeuge berichtete, dass die Siegerin des Hindernisrennens der Juniorinnen im Ziel weitergelaufen sei, um den Dopingkontrolleuren aus dem Weg zu gehen. EPO gibt es in der Apotheke Deren Anwesenheit führte zu einem extremen Exodus der Teilnehmerfelder. Die Hälfte trat nicht an. Beim Hammerwurf der Jugendlichen war wie im 100m-Feld der Elite nur noch ein Sportler am Start. In den Waschräumen des Jawaharlal-Nehru-Stadions hat man wohl Verpackungsmüll des Mittels Erythropoetin (EPO) gefunden. Dieses Mittel, das vornehmlich der Erhöhung der Ausdauerleistung dient, ist in Indien in Apotheken so leicht erhältlich wie eine Salbe gegen Gelenkschmerzen in unseren Breitengraden. Aber es steht natürlich auf der Dopingliste. Ich kann mich noch gut an die Weltmeisterschaften der Leichtathleten zuletzt in Budapest erinnern. Indien gewann eine Goldmedaille durch Neeraj Chopra im Speerwurf und wurde vielfach schon als kommende starke Sportnation bezeichnet. Der Erfolg von Chopra sei, so hieß es, erst der Anfang. In Tokio wurde er auch schon Olympiasieger in seiner Disziplin. Man könnte jetzt einwerfen, dass Chopra ja kein Ausdauerathlet sei und dass er seine Leistungen mit der Unterstützung deutscher Trainer gesteigert habe. Doch die Vorfälle und die augenscheinlich fast greifbare Angst vor Dopingkontrollen bei den erwähnten Landesmeisterschaften machen deutlich, dass der Aufbruch von Indien als Sportnation mit Argusaugen beobachtet werden muss. Verbotenes Salutieren Bei den im Augenblick ebenfalls ausgetragenen Asienspielen im chinesischen Chengdu hat zwar die Internationale Dopingagentur WADA ein Auge auf die Veranstaltung geworfen. Von großem Durchsetzungsvermögen kann freilich keine Rede sein. Nordkoreas Anti-Dopinglabor etwa wurde wegen Lücken im Überprüfungssystem suspendiert. Die Athleten dürfen demzufolge nicht unter ihrer Landesflagge salutieren, was sie freilich nicht daran hindert, dies dennoch zu tun. Sie setzten sich einfach über diese Maßnahme hinweg und zeigen damit im Grunde auch, wie schwach die internationale Dopingkontrolle nach wie vor ist. Wir alle, Sportfans ebenso wie Journalisten, lassen uns immer noch zu leicht in die Irre leiten und bejubeln neue Bestmarken. Im Marathon glauben wir jetzt allen Ernstes, dass vor allem das neue Schuhmaterial die Athleten bei neuen Höchstleistungen unterstützt. Das dient auch unserer Beruhigung. Doch dahinter ist nach wie vor Chaos. Die Athletics Integrity Unit (AIU), die weitestgehend unabhängig vom Internationalen Leichtathletik-Verband &bdquo;World-Athletics“ unter anderem das Antidoping-System steuert, verzeichnete im November des vergangenen Jahres 54 Athleten und Athletinnen aus Kenia, die zurzeit wegen Dopingvergehens nicht startberechtigt sind. Zum genannten Termin waren es übrigens 61 Aktive aus Indien, die gesperrt waren. Der kenianische Staat hat jetzt immerhin ein Programm aufgelegt mit einem Budget von 25 Millionen Euro für fünf Jahre und man hat sich auch darauf verständigt, Doping zu kriminalisieren. Es fehlen Kontrollsysteme Zeichen der Hoffnung gibt es. Viele Läuferinnen und Läufer aus Kenia fragen sogar selbst nach Dopingkontrollen, weil sie unter dem schlechten Licht der vielen Fälle leiden. Das Problem freilich kann schon deshalb nicht gelöst werden, weil etwa in Kenia, Äthiopien oder Uganda kein wirkliches unabhängiges Kontrollsystem existiert. In Indien mag dies ähnlich sein, nur fragt da niemand nach, sondern man läuft möglichen Kontrollen einfach davon oder erscheint nicht zum Wettkampftermin, wie jüngst erlebt. Nicht einmal ein Jahr vor den Olympischen Spielen in Paris ist die Sportwelt nach wie vor meilenweit davon entfernt, die Dopingproblematik in den Griff zu bekommen. Die ziemlich hoch angesetzten Qualifikationskriterien mögen auch ihren Teil dazu beitragen, dass so mancher Athlet die weiterhin vorhandenen Schlupflöcher nutzt. So lange es keinen klaren Dopingnachweis über einen überschaubaren Zeitrahmen für alle gibt, die an den Start gehen wollen, wird es ein ewig währender und weiterhin zermürbender Kampf um Wahrheit, Gerechtigkeit und Chancengleichheit bleiben. Zum Autor: Sigi Heinrich Der vielfach ausgezeichnete Sportjournalist, Buchautor und Eurosport-Kommentator widmet sich in seiner Kolumne &bdquo;Sigi´s Spitzen“ der gesamten Vielfalt des Sports und wildert gerne auch in fremden Gefilden. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal ernst oder auch bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

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