Ein Südtiroler mit Boston-Erfahrung

Spitzenleistungen im Sport sind mitunter oder sogar meist für den berühmten &bdquo;Otto-Normalverbraucher“ nicht nachvollziehbar, was ja auch letztlich ihren Reiz ausmacht. Beim Kunstturnen etwa wird die Schwerkraft schier aufgehoben. Menschen drehen sich in der Luft dreimal um die Körperlängsachse und auch noch zusätzlich um die Breitenachse. Sie fliegen am Reck über die Stange und packen wieder fest zu nach einem Salto in der Luft dazwischen. Am Stufenbarren zeigen Kunstturnerinnen zwischen einem hohen und einem niedrigeren Holm schiere Akrobatik. Wir staunen, applaudieren und wissen natürlich genau, dass dies im Grunde für uns nie erreichbar ist.

Versuchen wir eine vermeintlich einfachere Herangehensweise an das, was Weltklasseathleten zeigen. Nehmen wir einen 100m-Lauf. Schaffen wir diese Strecke noch in 17 Sekunden? Auf Anhieb werden viele jetzt prompt und etwas vorschnell antworten: Natürlich. Das ist ja nun kein großer Akt. Doch täuschen sie sich nicht. Es ist schnell und wird mit zunehmendem Alter immer schwieriger. Sollten sie die Möglichkeit haben, das mal zu testen bei ihrem Sportverein zuhause, werden sie sich wundern. Und dürfen getrost Lob einheimsen, wenn sie unter dieser Marke bleiben. Sie werden dann ausgepumpt im Ziel stehen. Das garantiere ich Ihnen. Und dann stellen Sie sich vor, nachdem Sie sich etwas erholt haben, dass Sie das jetzt 422mal wiederholen müssen. Immer und immer wieder. 422mal 17 Sekunden über 100m. Ohne Pause dazwischen. Ständig auf Trab gewissermaßen. Dann nämlich würden Sie einen Marathon in etwa zwei Stunden laufen können, was dem Kenianer Eliud Kipchoge 2019 in Wien gelang. Seine damalige Zeit von 1:59.40 Stunden zählt indes nicht als Weltrekord, weil sie unter Laborbedingungen zustande kam, wie das so schön heißt. Ein Fahrzeug schuf Windschatten, Tempomacher wechselten sich dauernd ab. Das passte den Wettbewerbshütern des Weltverbandes nicht so recht, weshalb als offizieller Weltrekord 2:01:09 Stunden in den Büchern stehen. Aufgestellt auch von Kipchoge 2022 in Berlin.

Die Jagdsaison hat begonnen Jetzt ist wieder Jagdsaison. Die großen Frühjahrsmarathons stehen auf dem Programm. Tokio war schon, Paris ebenfalls und jüngst erst lief der belgische Olympiadritte Bashir Abdi in Rotterdam mit 2:03.47 Stunden nah an seinen eigenen Europarekord heran. Pro Kilometer kommt damit also eine Zeit von 2:50 Minuten zustande. Das gelingt vielen nicht mit dem Fahrrad. Schon gar nicht zwei Stunden lang bei gleichbleibendem Tempo. Einer der weiß, wie sich das alles so anfühlt, ist der Südtiroler Hermann Achmüller, der als einen der Höhepunkte seiner Laufbahn (Bestzeit 2:18,56) im Jahr 2017 alle sechs Major-Marathons (Tokio, London, New York, Berlin, Boston und Chicago) in einem Jahr lief, was an sich schon eine unvorstellbare Leistung ist. Achmüller kommentiert mittlerweile regelmäßig mit mir einige Marathonrennen. Er kam in seiner aktiven Zeit als Leistungssportler allerdings noch nicht in den Genuss der neuen Materialen im Schuhbereich, die natürlich hilfreich sind auf der Jagd nach immer besseren Resultaten. Als er unter 2:20 Stunden lief, waren die Schuhsohlen noch dünn und biegsam. Jetzt sind sie bretthart, weil in allen Laufschuhen für den Profi und den engagierten Freizeitläufern Carbonplatten eingebaut werden. Das neue Motto heißt mithin: Nur fliegen ist schöner. Der gesamte Laufstil hat sich dadurch geändert. Bei einem Carbonschuh muss man beim Abrollen die Zehen nicht mehr krümmen, denn die unflexible Sohle hält die Zehengelenke steif. Das spart Energie und gleichzeitig gibt das responsive Dämpfungsmaterial viel seiner Verformungskräfte wieder an den Läufer zurück. Das heißt auf eine einfache Formel gebracht: &bdquo;Mit jedem Schritt muss etwas weniger Muskelaufwand betrieben werden, um den gleichen Vortrieb wie früher zu erzeugen“, wie der Biomechanikexperte Gert-Peter Brüggemann erklärt.

Hermann Achmüller lief 2017 alle sechs Major-Marathons.

Schon vor vier Jahren wurden 86 Prozent der Podiumsplätze bei den World-Major-Marathons mit den neuen Schuhen erzielt. Mittlerweile sind wir bei einhundert Prozent. Allerdings darf man nun nicht glauben, dass nur die technische Entwicklung in diesem Bereich die Grenzen immer weiter in die Richtung unter zwei Stunden bei den Männern und bei den Frauen bald auch unter 2:10 Stunden treiben wird. Es ist vor allem auch die nach wie vor ungeheure Schar an Läuferinnen und Läufer aus Äthiopien und Kenia mit ihrem sozialen Antrieb, für die ein Marathon schlicht die Lebensgrundlage bedeutet. Von den mittlerweile guten Preisgeldern leben Familien, ja ganze Dörfer. Längst umgehen junge Athleten die Wettkämpfe auf der Bahn und stürzen sich schon mit zwanzig Jahren gleich von Anfang an in die Marathonszene. Und mittlerweile ist es auch so, dass Läufer aus Europa in Afrika trainieren, um dort von den Besten zu lernen. Ein Ende des Booms auf den 42 Kilometern und 195 Metern ist nicht abzusehen.

Zehn Jahre nach dem Attentat Dabei steht Boston in diesen Tagen natürlich im Mittelpunkt. Auch für Hermann Achmüller ist mit diesem Rennen eine ganz besondere Erinnerung verbunden. Denn vor exakt zehn Jahren, genau am 14. April 2013, wurden auf der linken Seite der Ziellinie zwei Bomben gezündet. Genau vier Stunden, neun Minuten und 44 Sekunden nach dem Start. Hermann war glücklicherweise zu diesem Zeitpunkt längst am Ziel gewesen. Drei Zuschauer starben damals. Bei der Jagd nach den Attentätern, zwei US-Amerikanern, die aus Tschetschenien eingewandert waren und sich radikalisiert hatten, wurde zudem noch ein Polizist getötet. 260 Menschen wurden verletzt, viele verloren Gliedmaßen, weil die Rucksäcke mit den Sprengsätzen am Boden deponiert worden waren. An beiden Stellen, an denen die Bomben detonierten, wurden Gedenktafeln angebracht. Das Grauen ist gegenwärtig und auch diesmal schwingt wie immer bei solchen Großveranstaltungen ein wenig Angst mit. Angst und Sorge, dass hoffentlich nichts Außergewöhnliches passieren möge. Wenn überhaupt, dann hätte ich nichts gegen einen neuen Streckenrekord, der bei 2.03.02 steht, aufgestellt von Geoffrey Mutai vor zwei Jahren. Diesmal ist der König des Marathons zum ersten Mal in Boston dabei: Eliud Kipchoge aus Kenia, der im nächsten Jahr in Paris zum dritten Mal in Folge Olympiasieger werden will, weshalb er wohl nur noch in Boston vorher bei einem Marathon zu sehen sein wird. Hermann Achmüller wird das auf jeden Fall genau beobachten am Eurosport-Mikrophon. Ich freue mich darauf.

Zum Autor: Sigi Heinrich Der vielfach ausgezeichnete Sportjournalist und TV-Kommentator (u.a. Deutscher Fernsehpreis, Bayerischer Sportpreis, Biathlon-Award und World-Sports-Trophy) widmet sich in seiner Kolumne &bdquo;Sigi´s Spitzen“ der gesamten Vielfalt des Sports und mitunter wildert er auch in fremden Gefilden. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, informativ und ernst oder auch bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein. Heinrich war nach seinem Sportstudium an der TU München zehn Jahre Redakteur der Süddeutschen Zeitung und ist seit 34 Jahren bei Eurosport am Mikrophon.

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