Kolumne | Millionenspiel Marathon

Man muss das zweifellos mögen: Eingekesselt und kaum bewegungsfähig zu warten, bis endlich der Startschuss erfolgt. Für 50.000 Läufer. Und Läuferinnen natürlich, denn der Frauenanteil beim Marathon steigt beständig. Erstmals werden in diesem Jahr in London gleichviele Männer wie Frauen die traditionelle Strecke in Angriff nehmen. Es sind genau 42 Kilometer und 195 Meter und dieses schräge Maß ist natürlich den Engländern zu verdanken und nicht etwa den Griechen, wie man meinen mag. Früher, also noch vor den Olympischen Spielen 1908, schwankte die Entfernung zwischen 40 und 43 Kilometern. Dann, bei eben jenen Spielen in London, wurde die Distanz auf genau 26,2 Meilen festgelegt.

Die Geschichte indes ist eher undurchsichtig, wenngleich unstrittig feststeht, dass der London-Marathon damals auf Schloss Windsor begann und im Olympiastadion vor der königlichen Loge endete. Möglicherweise kamen deshalb die 385 Yard noch dazu. Es besteht unter allen Geschichtsschreibern immer noch kein Konsens, wie denn nun wirklich die Distanz zustande kam. Mittlerweile macht sich freilich kaum noch jemand darüber Gedanken. Es ist wie es ist. Klar ist nur, dass 490 vor Christus durchaus sehr gut trainierte Läufer Nachrichten übermittelten, wie auch jene vom Sieg der Griechen über die Perser. Von Marathon nach Athen. Der Überbringer der Meldung soll in voller Rüstung gelaufen sein – was damals übrigens üblich war – und nach den Worten: &bdquo;Wir haben gesiegt“, tot zusammengebrochen sein. Weil er schlecht trainiert war? Nie und nimmer, wie die Wissenschaft herausgefunden ist. Der Arme hatte einfach Pech. Erst kämpfte er aufopferungsvoll gegen die Perser, dann war es für die Jahreszeit extrem heiß, weshalb es wohl einfach ein Hitzschlag war, der ihn dahingerafft hat. Immerhin ist es nach wie vor eine Warnung auch heutzutage, einen Marathon nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Auch ohne Rüstung.

Steigende Umsatzzahlen Die Marathonstrecke hat nichts von ihrer Faszination eingebüßt, auch wenn die damalige Olympiaentscheidung in Athen 2004 auf einer nicht besonders attraktiven Strecke, der möglichen Originalroute, ausgetragen wurde. Aber auch diesbezüglich ist sich die Wissenschaft nicht ganz einig. Es soll ja auch eine alternative aber wesentlich steilere und schnellere Passage möglich gewesen sein. Mittlerweile wetteifern große Städte darum, wer den größten, schönsten und natürlich schnellsten Marathon organisiert. Die schon erwähnte Grenze von 50.000 pro Rennen ist der Gradmesser. Alleine in Deutschland gab es im vergangenen Jahr 105.000 sogenannte &bdquo;Finisher“, die das Ziel in einer gewissen vorgegebenen Zeit erreichten. Der Markt boomt, die Schuhindustrie jubelt. 173 Millionen Paar Laufschuhe wanderten im vergangenen Jahr über die Ladentische der Sportgeschäfte. Der Umsatz betrug 12,51 Milliarden Euro weltweit. Sogar Nordkorea will da plötzlich dabei sein.

Marathon-Legende Kelvin Kiptum. © APA/afp / JUSTIN TALLIS

Erstmals seit sechs Jahren wurde in Pyöngyang wieder ein Marathon organisiert. Sogar Rumänen, Marokkaner und Ägypter durften mitmachen. Im Stadion sollen offiziellen Angaben zufolge, 50.000 Zuschauer auf die Teilnehmer gewartet haben (es ist nicht überliefert, wer davon freiwillig da war). Gewonnen hat, es durfte nicht anders sein, natürlich ein Nordkoreaner. Immerhin war es seit der totalen Abschottung in Corona-Zeiten eine wenn auch nur sehr leichte Öffnung dieses Landes.

Trail ist der neue Trend Es ist Marathonzeit. London, Boston und Paris stehen demnächst auf meinem Terminplan. Dem neuen Schuhwerk sei Dank, können die Besten mittlerweile sogar drei Starts in Angriff nehmen. Mehr sollten es selten sein, sind aber möglich, genauso wie noch ganze andere Varianten der Langstrecken. Ultra-Trail-Rennen sind ebenso hoch im Kurs und holen auf was die Teilnehmerzahlen angeht, was angesichts der zu erbringenden Leistung erstaunlich ist. Beim UTMB am Mont-Blanc etwa legt man etwa 170 Kilometer inklusive 10.000 Höhenmetern zurück.

An einem Stück wohlgemerkt. Südtiroler scheinen dafür besonders geeignet zu sein. Daniel Pattis, Jens Kramer, Andreas Reiterer, Phillip Ausserhofer oder Daniel Jung gehören in der Trail-Szene längst zur Elite. Auch die Serie der Bergläufe ist weltumspannend und erschließt natürlich weitere Märkte für die Industrie, wie überhaupt die Wertschöpfung dieser großen Veranstaltungen immer neue Dimensionen erreicht. Man hat den Eindruck, die ganze Welt läuft, gerade so, als wolle man auch davonlaufen, weglaufen von all den vielen Nachrichten, die den Eindruck vermitteln in jedweder Beziehung, dass die Welt ihrem Ende entgegentrudelt. Da tut es gut, ein paar Stunden abzuschalten im Rhythmus der Beine und des Herzens. Einfach durchatmen. Kräftig und befreiend. Egal ob es nun ein Marathon ist, ein Berglauf oder auch nur ein Spaziergang in der frischen Luft.

Zum Autor: Sigi Heinrich Der vielfach prämierte Sportjournalist (u.a. Gewinner des Deutschen Fernsehpreise, des Bayrischen Sportpreises und nominiert für den renommierten Grimme-Preis), Buchautor, langjähriger Sportredakteur der Süddeutschen Zeitung und seit 1989 Kommentator bei Eurosport, widmet sich in seiner wöchentlichen Kolumne der gesamten Vielfalt des Sports. Gerne wildert er auch in ihm gar nicht so fremden Gefilden. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal nachdenklich oder auch bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

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