Kolumne | Ein Höhepunkt im Sportkalender

Es wird mal wieder Zeit, der Leichtathletik einen Besuch abzustatten. Einer Sportart, die vor allem durch ihre Vielfalt besticht und auch begeistert und in die man sich eben auch deshalb hineinarbeiten muss. Es stehen nicht 22 Spieler auf dem Platz, die sich um einen Ball streiten. Oder zwei wie im Tennis. Volleyball, Basketball oder im Winter auch etwa ein Abfahrtsrennen: Das ist alles relativ leicht zu verfolgen. Es ist übersichtlich und klar gegliedert. Zusätzlich ist noch Zeit für Wiederholungen. Dagegen tut sich die Leichtathletik mit ihren unzähligen höchst unterschiedlichen Disziplinen schwer.

Wohin soll man schauen im Stadion? Laufen, Springen, Werfen. Zum Teil findet alles gleichzeitig statt. Vor allem in den Qualifikationen für die Finals. Die Leichtathletik ist schwierig. Für den Konsumenten an den Fernsehschirmen ebenso wie für die Zuschauer im Stadion, die trotz emsiger Stadionsprecher oft unzureichend informiert werden. Schlicht, weil es fast unmöglich ist, den Überblick zu behalten. Und dennoch ist die Faszination der sogenannten Kernsportart, der Mutter aller Sportarten eigentlich, nach wie vor ungebrochen. Selbst ungewöhnliche Startzeiten werden akzeptiert. Die Leichtathletik verlangt Opfer. Aber wir bieten Hilfe. Wer etwa keinen guten Schlaf hat in der kommenden Woche muss sich nicht grämen. Wir sind für ihn da.

Mit meinem Kollegen Markus Röhrig mache ich bei Eurosport die Nacht zum Leichtathletik-Tag. In Tokio beginnt am Samstagmorgen um 07.30 Uhr das Gehen, wie auch die Marathonläufe in den Tagen danach. Das ist eine halbe Stunde nach Mitternacht in unserem Zeitfenster. Danach folgen, um nur mal ein Beispiel zu nennen, am Samstag die Qualifikationen im Diskuswerfen der Frauen, die 100m-Vorläufe der Männer, die Vorläufe der Mixedstaffeln über 400 Meter und die Qualifikation im Kugelstoßen der Männer. Um 05.00 Uhr morgens ist dann erst mal eine kurze Pause. Es gibt Sushi. Um 11.00 Uhr haben wir dann längst wieder unseren Kopfhörer über den Ohren. Und zur späten Mittagszeit, so gegen 14.00 Uhr, würde ich den italienischen Leichtathletik-Fans raten, sich vor dem Fernsehgerät einen guten Platz zu sichern, denn dann könnte vielleicht sogar eine erste Medaille fällig sein, wenn Leonardo Fabbri, der Europameister, sein Sportgerät, die Kugel, in die Hand nimmt. Er hat mit 22,82 Meter die in diesem Jahr beste Weite erzielt. Nichts, aber wirklich gar nichts, versäumen sie, wenn sie unsere Gäste sind. Zu jeder Zeit.

Erinnerungen an 1991 Für mich wird in Tokio ein Traum wahr, weil ich auch schon 1991, vor also 34 Jahren, für Eurosport in der japanischen Hauptstadt am Mikrophon war. Und die Erinnerung daran ist vor allem geprägt vom damaligen Weitsprung-Wettkampf. Die 1968 während der Olympischen Spiele in Mexiko-City erzielten 8.90 Meter von Bob Beamon wurden überboten, obwohl man damals davon ausging, dass dies nie mehr der Fall sein könnte. Wie bei allen sogenannten Fabelrekorden. Zunächst sprang Carl Lewis 8.91 Meter. Doch das reichte verrückterweise nicht, denn Mike Powell erhöhte auf 8.95 Meter. Es war legendär. Und der Drittplatzierte Larry Myricks kam immerhin noch auf 8.44 Meter. Damit könnte man in diesem Jahr in Tokio sogar Weltmeister werden. Schon das alleine zeigt die schier außerirdische Leistung, die damals erzielt wurde. 2020 fanden in Tokio die Olympischen Spiele statt. © APA / GEORG HOCHMUTH

Die beste Weite in diesem Jahr steht bei 8.46 Meter von Miltiadis Tentoglou aus Griechenland. Aber schon ein paar Zentimeter dahinter rangiert Mattia Furlani aus Marino in den Albaner Bergen mit 8.37 Metern. Der Italiener gewann mit damals erst 19 Jahren im vergangenen Jahr schon Bronze bei den Olympischen Spielen in Paris. Am kommenden Mittwoch um 13.50 Uhr steigt sein Finale. Die in welcher Disziplin auch immer erreichten Leistungen sind dabei eher nebensächlich. Die Leichtathletik lebt wie immer vor allem vom Wettkampf im eigentlichen Sinn. Von knappen Zieleinläufen im Hundertstelbereich bei den Sprints. Von Zentimetern in den Würfen und Sprüngen. Von Überholmanövern auf den Mittel-und Langstrecken und pfeilschnellen letzten Runden nach Ertönen der Glocke, die immer noch traditionell mit Hand bedient wird. Es ist oft nicht notwendig, Jahresweltbestleistungen oder gar persönliche Bestleistungen zu erzielen. Es geht vor allem darum, am Tag der Entscheidung höher als die Konkurrenz zu springen, weiter zu werfen oder einen Tick schneller zu laufen. Die Ergebnisse im Vorfeld bei nationalen Meisterschaften oder diversen Meetings sind nur ein Anhaltspunkt und keine feste Größe, auf die man bauen kann. Auch das gehört zum Wesen der Leichtathletik.

Überraschungen sind Teil der Inzenierung Es ist der ständige Zauber der möglichen Überraschung, der in der Luft liegt. Selbst schier unantastbare Athleten wie Femke Bol, Karsten Warholm (beide 400m Hürden) oder der Überflieger mit dem Stab, Armand Duplantis, müssen erst einmal abliefern. Der Schwede etwa hat zuletzt nur höhengleich in Zürich gegen den Griechen Emmanouil Karalis gewonnen. Die Weltmeisterschaft wird also auch für ihn kein Wettkampf werden, bei dem ihm Gold automatisch zufliegt. Das ist gut zu wissen und gehört eben auch zu den Vorzügen der Leichtathletik mit ihrer manchmal tragischen Unberechenbarkeit. Spannung ist stets greifbar. Und jetzt gibt es auch keine Ausreden mehr. Viele sind sich monatelang bei den unterschiedlichen Meetings aus dem Weg gegangen, um ihre Karten nicht auf den Tisch legen zu müssen. Jetzt gibt es kein Versteckspielen mehr. Über 2000 Athleten werden an den Start gehen aus mehr als 200 Ländern (die genaue Zahl steht erst in ein paar Tagen fest). Es ist eines der größten globalen Sportfeste und die Vorfreude ist groß, weil die Olympischen Spiele vor vier Jahren von der Pandemie geprägt waren. Es gab seinerzeit keine Zuschauer. Diesmal wird das Nationalstadion gut gefüllt sein, auch wenn es nicht viele japanische Medaillenkandidaten gibt. Aber auch das ist ein Wesensmerkmal der Leichtathletik. Sie ist international, völkerverbindend und taugt nur bedingt zur Befriedigung der nationalen Bedürfnisse, auch wenn es, wie immer bei solchen Anlässen, einen Medaillenspiegel gibt. Ich freue mich auf jeden Fall auf jede Minute Leichtathletik, auf ein großes Spektakel und auf Sushi. Original von großen Sushi-Meistern (Itamae) zubereitet, die jahrelang die präzise Schneidetechnik trainiert haben müssen, um anerkannt zu werden. Auch das ist eine sportliche Höchstleistung und passt zu diesen Tagen in Tokio.

Zum Autor: Sigi Heinrich Der vielfach prämierte Sportjournalist (u.a. Gewinner des Deutschen Fernsehpreises, des Bayerischen Sportpreises und nominiert für den renommierten Grimme-Preis), Buchautor, ausgebildeter Sportlehrer, langjähriger Sportredakteur der Süddeutschen Zeitung und seit 1989 Kommentator bei Eurosport, widmet sich in seiner wöchentlichen Kolumne der gesamten Vielfalt des Sports. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal nachdenklich oder auch bewusst provozierend. Und oft auch mit persönlichem Bezug. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

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