Armand Duplantis: Dem Himmel so nah

Waren Sie schon einmal im Schwimmbad auf dem Sprungturm? Es muss nicht gleich die höchste Plattform sein, also zehn Meter. Eine Stufe darunter verursacht schon beim Blick hinunter auf das leicht kräuselnde Wasser leichtes Bauchgrummeln. Und jetzt stellen Sie sich vor, dass etwa auf ihrer Brusthöhe plötzlich ein Mensch an ihnen vorbeifliegt. Gemessene Höhe: 6,23 Meter. Das nämlich ist der aktuelle, schier unvorstellbare neue Weltrekord im Stabhochsprung von Armand Duplantis. Der US-Amerikaner mit schwedischen Wurzeln erreichte diese Höhe beim Finale der Leichtathleten im Rahmen der Diamond-League (die natürlich auch höchste Kategorie solcher Veranstaltungen) in Eugene (USA). An jener Stelle, an der er vor einem Jahr auch Weltmeister geworden war. Olympiasieger ist er natürlich auch schon, obwohl er erst 23 Jahre alt ist. Duplantis berührt die Wolken. Er ist ein Überflieger. Schon als Kind nahm er einen Besenstil in die Hand und wuchtete sich über das heimische Sofa. Zwischenzeitlich benutzte ihn seine drei Jahre jüngere Schwester Johanna, die im Besitz der freilich inoffiziellen Altersgruppenweltrekorde für Sechsjährige (1,62m) und Siebenjährige (1.98m) ist. Früh übt sich eben, was ein Meister werden will und gerade im Stabhochsprung ist das letztlich vielleicht sogar überlebenswichtig, denn diese wirklich spezielle leichtathletische Disziplin gilt als die gefährlichste. Man kann sich eine Eisenkugel auf die Zehen fallen lassen, im Hindernislauf stolpern oder wie jüngst bei der WM in Budapest erlebt, auch mit dem Staffelstab in der Hand kurz vor dem Ziel auf die knallharte Laufbahn krachen. Danach hat man sicher schmerzhafte Abschürfungen und einen Schock. Aber lebensgefährlich ist das alles nicht. Stabhochsprung schon. Leon Roch starb 2009 nach einem Trainingsunfall. Der 19jährige US-landete im Training kopfüber neben der Matte. Die Österreicherin Kira Grünberg zog sich 2015 bei einem Trainingssprung einen Bruch der Halswirbelsäule zu und ist seitdem querschnittgelähmt. Ich wähle diese beiden Beispiele bewusst aus, denn bei den Sprüngen von Duplantis sieht alles immer so beschwingt, locker und federleicht aus, gerade so, als sei in keinem Augenblick des komplizierten Bewegungsablaufes auch nur der Hauch einer Gefahr vorhanden. Die Stäbe werden immer besser Möglich sind diese schier unglaublichen Bestleistungen natürlich durch die immer bessere Athletik der Protagonisten geworden, die durch die Entwicklung der Stäbe maßgeblich unterstützt wird. Mit normalen Holzstangen sprang man in der Antike in Kreta über die Bullen, die Kelten benutzten sie bereits, um auch weite Sprünge damit zu machen, ehe dann 1715 der Hochsprung mit Stab von der Deutschen Turnerschaft eingeführt wurde. Über Bambusstäbe, Aluminumstäbe und Stahlstäbe kam man schließlich zu den heutigen, modernen Materialen. Jetzt sind die Stäbe entweder aus kohlenstofffaserverstärktem Kunststoff (CFK) oder aus glasfaserverstärktem Kunststoff (GFK). Durch die erwünscht hohe Durchbiegung, die den Athleten in die Höhe katapultiert, können sie natürlich dennoch brechen. Allerdings passiert das mittlerweile eher selten. Selbst in Wettkämpfen habe ich das schon lange nicht mehr erlebt. Ein Restrisiko bleibt indes. Allerdings springt niemand mehr wie dereinst Toby Stevenson mit einem Helm, der freilich bei einem Sturz auch im Halswirbelbereich nicht viel helfen kann. Vermutlich ist der Höhenrausch noch nicht zu Ende. Während die Entwicklung bei den Damen stagniert (der erste Sprung über 5,00m von Elena Isinbajeva war bereits 2005 und noch immer ist das die Schallmauer) scheinen die Männer in der Lage zu sein, noch immer näher zum Himmel zu springen. Dagegen ist etwa der Hochsprung, der ohne technische Hilfsmittel auskommt, derzeit überschaubar. Es sieht ganz so aus, als könne sich Javier Sotomayor weiterhin lässig zurücklehnen, denn der Weltrekord des Kubaners von 2,45m aus dem Jahr 1993 gilt derzeit als unantastbar. Aber wer weiß: Vielleicht kommt auch bald ein spezieller Schuh für die kleinen Überflieger. Einer, der einen leichten Trampolineffekt hat wie jener, den die Ausdauerläufer mittlerweile benutzen. Die Auswirkungen sind deutlich. Mittlerweile bewegen sich die Marathonzeiten kontinuierlich auf die zwei Stunden zu. Eliud Kipchoge knackte bereits einmal diese Wahnsinnsmarke, freilich unter sogenannten Laborbedingungen bei einem Lauf in Wien mit wechselnden Tempomachern und wissenschaftlich ausgeklügeltem Windschatten. Marathon ist freilich mittlerweile eine Massenbewegung geworden, weshalb die Entwicklung neuer Schuhe, die zu besseren Leistungen führen können, auch eine wirtschaftliche Komponente hat. Zum Boston-Marathon für das nächste Jahr sind bereits jetzt 33.000 Anmeldungen sogenannter qualifizierter Läuferinnen und Läufern eingegangen, die bestimmte Vorleistungen nachweisen konnten. Dagegen sind Hochspringer eine aus finanziellen Erwägungen für die großen Schuhfirmen klar zu vernachlässigende Spezies. Und ja, es dreht sich doch wieder alles ums Geld. Der Sport ist ein Motor, eine Ausstellung für Innovation. Nun könnte man entgegnen, dass Stabhochsprung nun wirklich keine Sportart ist, die Abertausende betreiben. Das ist Skispringen auch nicht. Trotzdem werden Sprungskier produziert und weiterhin auch Stäbe für &bdquo;Mondo“ Duplantis und seine Kollegen. Es ist der zirzensische Faktor, der auch für die Werbeindustrie verlockend ist. Menschen, die sich in ihren Bereichen scheinbar über alle Grenzen hinwegsetzen können. Der neue Weltrekord von 6,23m wird nur ein Übergang sein. Schier unglaublich ist er dennoch. Zum Autor: Sigi Heinrich Der vielfach ausgezeichnete Sportjournalist, Buchautor und Eurosport-Kommentator seit der Gründung des Senders 1989 widmet sich in seiner Kolumne &bdquo;Sigi´s Spitzen“ der gesamten Vielfalt des Sports. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal ernst oder auch bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

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