Doping und die zweite Chance

Es ist kalt draußen. Klirrend kalt. So kalt, dass man beinahe den Eindruck hat, es sei alles erstarrt. Nichts bewegt sich. Aber gerade jetzt sollen ja unsere Herzen aktiv sein. Liebe soll verbreitet werden in diesen so gefühlsduseligen Tagen. So wird uns das allenthalben suggeriert. Die Nachricht wird untermalt durch ständige Berieselung schmalziger Lieder. Und ja doch: Ich habe es verstanden. Solidarität ist mal wieder gefragt. Sagt das Christkind.

Ich mache ja mit. Ich bin geimpft, natürlich zweimal und sehne mich nach dem dritten Stich in meinen kräftigen Oberarm. Und zwischenzeitlich bin ich voller christlicher Werte, denn ich unterhalte mich noch immer mit meinen ungeimpften und unbelehrbaren Freunden. Ich versuche, sie zu überzeugen und gehe sogar mit ihnen ins Freie, hinaus in die arktische Kälte, um dort ein Gläschen zu trinken, denn sie, die renitenten Querdenker, lenken ja nicht ein und wissen, wie man aus allen Gesprächen heraushört, nicht einmal, warum sie so unsinnig gegen die Gesellschaft reagieren.

Es ist Großmut unsererseits notwendig. Sehr viel Entgegenkommen bis an die Grenze dessen, was man selbst noch vertreten kann. Denn eigentlich brodelt schier unbändige Wut in mir. Aber das will das Christkind nicht von mir sehen. Ich muss mich ja auch das ganze Jahr über verzeihlich geben. Gerade wurde vom Internationalen Sportgerichtshof (CAS) bestätigt, dass die von mir stets sehr geschätzte und auch sehr sympathische Biathletin Olga Saizewa aus Russland 2014 auf Teufel komm raus gedopt hat.

Jetzt wurden ihre Ergebnisse aus dieser Zeit gelöscht, was zu einem neuen Endstand im Gesamtweltcup geführt hat. Plötzlich war die Finnin Kaisa Mäkäräinen nicht mehr vorne, sondern die Norwegerin Tora Berger. Die Internationale Biathlon-Union (IBU) fand immerhin eine salomonische Lösung für das Dilemma. Jetzt werden beide nach sieben Jahren als Siegerinnen geführt. Und wie so oft in der Vergangenheit betraf es eine Athletin aus Russland, was meine Geduld schon ziemlich strapaziert, denn dauernd rennt vor meinen Augen im Biathlon ein ehemaliger Dopingsünder herum, eben auch aus Russland. Ich kann es nicht verhindern und muss folglich mit den Wölfen heulen, zumal Alexander Loginov, so heißt er, mitunter auch gute Wettkämpfe abliefert und ich das nicht total negieren kann. Der Herr, der alles sieht, wird es mir hoffentlich später mal danken. Ein Superdoper soll einem anderen Superdoper beistehen Er ist ja auch leider kein Einzelfall. Es sind, gerade im Sport, die Gefallenen, die nach Entdeckung ihrer Betrügereien unseren Langmut einfordern. Plötzlich ist ihr Leben ein schweres Schicksal, nachdem sie jahrelang ihre Konkurrenten mit unlauteren Mitteln um die Früchte ihrer Bemühungen brachten. Jan Ullrich, der deutsche Radsport-Held - als solcher wird er tatsächlich noch immer bezeichnet – soll es wieder mal nicht so gut gehen. Und da stellt die große Boulevardzeitung mit den vier Buchstaben doch tatsächlich die Frage: Kann Lance Armstrong seinen Freund noch einmal retten? Ich muss das schon ein paar Mal lesen, um es wirklich zu begreifen. Ein Superdoper soll einem anderen Superdoper in der Not beistehen. Von uns verlangt man in diesem Zusammenhang, dass wir natürlich Mitleid haben mit Ullrich, weil ihn vermutlich die wohl auch gesundheitsgefährdenden Mittel ziemlich arg zugesetzt haben.

Auch Alex Schwazer wird Raum gegeben, um seine Lebensgeschichte zu erzählen. © ANSA / ETTORE FERRARI / Archiv

Und tatsächlich wird unser Herz ein wenig berührt, genauso wie bei Alex Schwazer, dem italienischen Geher, der auch einmal betrogen hat und beim zweiten Mal vielleicht sogar selbst betrogen wurde vom System der Sportgerichtsbarkeit, weil man ihm nach der ersten Lüge nicht mehr glauben wollte. Auch ihm wird Raum gegeben, um seine Lebensgeschichte zu erzählen und von seinem neuen Leben zu berichten. Und auch hier ertappe ich mich, wie sich in mir ein ganz klein wenig Verständnis für den Sportler regt, denn das Leben nach dem Sport, was immer passiert ist, geht ja weiter.

Das Weihnachtsfest stimmt mich milder. In einem anderen Fall war es sogar noch intensiver. Stefan Matschiner, ein österreichischer Sportmanager, schrieb nach seiner Verurteilung wegen Blutdopings noch im Gefängnis ein Buch. &bdquo;Grenzwertig. Aus dem Leben eines Dopingdealers.“ Es hat sich gut verkauft, denn das Böse hat ja immer auch eine gewisse Faszination. Der Wahnsinn indes ist die Tatsache, dass Matschiner sogar Lesungen in Büchereien abgehalten hat, die auch gut besucht waren. Später hat er seine Geräte, die er für das Blutdoping bei seinen Athleten benötigte, übrigens an den Erfurter Sportarzt Mark Schmidt verkauft, der im Rahmen der Operation &bdquo;Aderlass“ 2019 der Dopingbeihilfe beschuldigt wurde. Der Kampf um die zweite Chance Der Sumpf, in den der Sport immer wieder versinkt, ist nie so richtig trockengelegt worden. Und doch erwartet man von uns, die wir zum Teil naiv, aber halt auch begeistert, alle Wettkämpfe verfolgen, dass wir bei allen, die sich Verfehlungen zu Schulden kommen ließen, die zweite Chance hoch hängen. Ganz hoch. Geradeso als wären das alles immer nur kleine Kavaliersdelikte gewesen, obwohl es doch fast immer groß angelegte Betrugsmaschinerien waren. Nein, so richtig warm ums Herz wird mir nicht, was ja eben nicht an der Kaltfront liegt, die uns gerade um die Ohren fliegt. Aber ich bin bereit, in all den geschilderten Fällen und auch in anderen, diese christliche zweite Chance zu geben.

Nur was die Impfgegner betrifft, wird mein Herz dann doch langsam aber sicher so hart wie ein Fels. Denn das Problem ist hier lebensbedrohend und eine zweite Chance, die gibt es dann eben nicht, wenn man in den Intensivstationen auf dem Bauch liegend um sein Leben kämpft. Doping ist Betrug und muss als solcher auch geahndet werden. Aber die Gesellschaft wird davon kaum in Mitleidenschaft gezogen. Die Weigerung, gemeinsam gegen die immer neuen Coronavarianten zu kämpfen, ist mehr als das: Es ist eine Reaktion, die so nicht länger akzeptiert werden darf, weil sie auch diejenigen treffen kann, die alles tun, damit der Kampf gegen das Virus gelingt. Impfgegner sind mehr als Dopingsünder. Sie sind eine Gefahr. Für mich und mein Leben und das meiner Liebsten. Frohe Weihnachten.

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Doping und die zweite Chance

Zum Weihnachtsfest richtet unser Kolumnist Sigi Heinrich noch einmal einen eindringlichen Appell an alle Impfgegner und gibt auch zu, dass es nicht immer leicht ist, ehemaligen Dopingsündern eine zweite Chance zu geben. Aber immerhin: Er versucht es und manchmal gelingt es sogar.

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