Eine misslungene Rolle rückwärts

Es sind 2600 Kilometer. Zwischen Paris und Odessa. Die Olympiastadt des nächsten Jahres schmückt sich derzeit gerade mit dem gelben Trikot des Siegers der Tour de France, Jonas Vingegaard. Beinahe schon wieder vergessen scheinen die jüngsten Ausschreitungen zu sein, der Aufschrei vor allem der Jugend aus den &bdquo;Banlieue“, den sozialen Brennpunkten in den Vorstädten der französischen Metropole. Jetzt wird und muss der Blick nach vorne gerichtet werden, denn, wie gesagt, im nächsten Jahr ist eine andere Jugend, die der Welt, wie das so romantisch verklärt im Jargon des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) heißt, in Paris zu Gast. Bis dahin soll fünf Jahre nach dem Großbrand auch die Kirche &bdquo;Notre Dame de Paris“ (deutsch: &bdquo;Unsere liebe Frau von Paris“) wieder in altem Glanz erstrahlen. Der Wiederaufbau wird eben wegen der Olympischen Spiele mit ungewohntem Tempo vorangetrieben. Immerhin ist sie auch die Kathedrale des Erzbistums von Paris. Es sieht also gut aus für den klerikalen Bau und damit auch für eine der großen Sehenswürdigkeiten von Paris. Weniger optimistisch geprägt ist die Situation 2600 Kilometer weiter östlich. Dort sind mutige Menschen gerade dabei, die größte orthodoxe Kirche der Stadt, die &bdquo;Verklärungskathedrale“, innen vom Schutt zu befreien, den ein Raketeneinschlag verursacht hat. Dabei ist sich Russland, das im Moment gerade die Hafenstadt Odessa täglich mit einem Bombenhagel überzieht, nicht zu schade zu behaupten, es sei eine ukrainische Luftabwehrrakete gewesen, die das Dach der Kirche schwer beschädigt habe. Die Kirche ist auch ein Symbol des Widerstandes gegen Russland und wurde schon von Stalin zerstört und nach der Sowjetzeit wieder aufgebaut. Zarin Katharina die Große, die Gründerin von Odessa, hatte den Bau einst angeordnet. Begonnen wurde 1795 und 1829 war der Bau mit dem damals noch freien Glockenturm beendet. 9000 Menschen haben in der Kathedrale Platz, die zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört. Neben Kliniken, Restaurants, Wohnhäusern oder Hafenanlagen macht Putin augenscheinlich auch nicht vor Kirchen halt, obwohl doch sogar der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche, Kirill, ein freilich enger Wegbegleiter Putins, das Gotteshaus nach dem Wiederaufbau eingeweiht hatte. Ob, wie nächstes Jahr in Paris, in der Kathedrale von Odessa bald wieder eine heilige Messe zelebriert werden kann, ist so unsicher wie die gesamte politische Lage nach dem von Putin inszenierten Angriffskrieg. Vorerst wollen sich die Gläubigen im Freien versammeln. Seit Beginn der russischen Offensive prägen Nachrichten wie eben jetzt die Zerstörung eines Friedenssymbols, der Kathedrale in Odessa, die allgemeine Meldungslage. Dabei zeigt der Angriff auf die Verklärungskathedrale noch einmal in aller Intensität, dass die Lage nach wie vor nicht dazu angetan ist, Russland in irgendeiner Weise den Weg in eine sportliche Normalität zu ebnen. Zwei für die Olympischen Spiele in Paris sogenannte Schwerpunktsportarten (Schwimmen und Leichtathletik) haben das auch klar deponiert. Sie wollen 2024 keine Athleten aus Russland und Belarus in Frankreich am Start sehen. Die dritte sogenannte &bdquo;Kernsportart“, Turnen, ist hingegen eingebrochen. Er wolle, so sagte der Präsident des Internationalen Turnverbandes (FIG), der Japaner Morinari Watanabe im typischen Vokabular eines Funktionärs &bdquo;sicherstellen, dass sein Verband damit die Rechte aller Athleten respektiert.“ Er wolle, so Watanabe weiter, &bdquo;eine Botschaft an die Welt senden, dass das Turnen nach Frieden strebt.“ Ich gebe zu, das ist mir neu. Bisher dachte ich immer, die Turner und Turnerinnen streben in erster Linie danach, bestmögliche Übungen zu zeigen. Eleganz in Verbindung mit schwierigen Elementen bei fairer Bewertung, zu der sicher auch die Veränderung der Wertungsvorschriften beiträgt. Jetzt müssen sie sich auch noch um den Frieden kümmern, in einer Riege dann vielleicht mit Vertretern Putins im Turndress. Wie unsicher sich die Mitglieder des Exekutivkomitees der Turner bei ihrem Beschluss indes sind, zeigt die Terminierung. Bei den Weltmeisterschaften in diesem Jahr in Antwerpen, bei der bereits Olympiafahrkarten vergeben werden, sollen noch keine Turner aus Russland und Belarus zugelassen werden. Und für eine Teilnahme bei den Olympischen Spielen in Paris sollen noch genauere Regularien für alle individuellen Sportler ausgearbeitet werden. Vielleicht müssen alle aus Putins und Lukaschenkos Revier dann erst mal nach Odessa reisen, um sich in der dann hoffentlich auch wieder renovierten Verklärungskathedrale mit einer Fürbitte den Segen holen. Die Turner haben jedenfalls eine nicht besonders geglückte Rolle rückwärts hingelegt und fallen mit ihrer fragwürdigen Entscheidung den Kollegen im Schwimmen und der Leichtathletik in den Rücken. Dass der Beschluss ausgerechnet in Lausanne zustande kam, dem Sitz der FIG, mag man als Zufall auslegen, oder auch nicht. Immerhin hat ja auch das IOC am Genfer See seine Schaltzentrale und dort steht man einer Teilnahme der Athleten aus Russland und Belarus eher wohlwollend gegenüber. Zum Autor: Sigi Heinrich Der vielfach ausgezeichnete Sportjournalist und Eurosport-Kommentator (u.a Deutscher Fernsehpreis für die Berichterstattung der Olympischen Spiele 2008 in Peking) widmet sich in seiner Kolumne &bdquo;Sigi´s Spitzen“ der gesamten Vielfalt des Sports und wildert gerne auch in fremden Gefilden. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal ernst oder auch bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

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