Kolumne | Chinas Aufholjagd am grünen Tisch

Es könnte ein großer Esstisch sein. Eine Tafel beinahe, die einlädt zu einem großen Gaumenfest. Die Größe jedenfalls würde passen. 3556 x 1778mm. Doch auf dieser durchaus respektablen Fläche wird nicht mit Fingerfood und Austernplatten angerichtet, sondern mit Kugeln in verschiedenen Farben, deren Durchmesser 52,5mm beträgt. Dabei ist wichtig zu wissen, dass in diesem Fall alle Objektbälle, wie das so schön heißt, die nicht rot sind, als farbige Kugeln bezeichnet werden. Rot ist also hier keine Farbe.

Und, ganz eigenartig, findet hier um diesen Tisch auch keine lustige, gar ausgelassene Party statt, bei der Gläser klirren, geschwätzige Gruppen zusammenstehen und ihre kleinen Lebenslügen zum Besten geben. Die Gesellschaft ist gut gekleidet. Mit Fliege, und Weste über dem gestärkten weißen Hemd. Das Licht ist gedämpft, es herrscht eine eher andächtige Stille, als würde eine würdevolle Messe zelebriert werden in diesem Saal, in dem auch Zuschauer Platz genommen haben. Doch dieses Publikum neigt nicht zu Ausschweifungen, johlend, pfeifend oder gar laut anfeuernd. Das würde nicht passen und dem Anlass gemäß sein. Nein, hier widmet es sich gediegenem Schweigen und wenn es mal klatscht, dann leise. Als würde der Rahmen das vorgeben und nichts anderes zulassen. Schon Augenzwinkern ist hier laut.

Die Snooker-WM findet alljährlich in Sheffeild statt. © APA/afp / OLI SCARFF

Wir sind beim Snooker, wo zwei Männer (warum nur Männer?) gegeneinander antreten und mit Raffinesse mit einem Stock die Kugeln in vorgesehene Öffnungen der Tischumrandung stoßen, wobei das eigenartige daran die Tatsache ist, dass die versenkten Objekte wieder auf die Platte gelegt werden. Das macht ein Herr – oder auch tatsächlich mal eine Dame – in fast andächtiger Ruhe, wobei die vorher durch den Queue (so heißt der Stock) malträtierten Kugeln mit weißen Handschuhen gestreichelt werden. Gerade so, als wisse man, dass man ihnen zuvor Gewalt angetan hatte.

Ein Geduldsspiel Es dauert eine Weile, bei mir fast drei Jahrzehnte, ehe sich einem das Besondere dieses Spieles, dieser Sportart, erschließt. Ich wurde quasi dazu gezwungen, denn stets, wenn ich ein anschließendes Programm zu kommentieren hatte, musste ich warten. Und warten und warten, denn Snooker unterliegt keinem festen Zeitschema. Ein Spiel dauert so lange, wie es dauert. Auch die jetzt abgelaufene Weltmeisterschaft in Sheffield hat diesbezüglich wieder ein paar Geduldsproben gefordert. Doch diese wurden mit zunehmendem Verständnis für die komplizierte Vorgehensweise der Spieler immer leichter zu ertragen. Und längst weiß ich, dass auch die Akteure nur mit Geduld ans Ziel kommen.

Mark Williams musste sich Zhao Xintong geschlagen geben. © APA/afp / OLI SCARFF

Ich staunte indes nicht schlecht, als ich bei fast jedem Spiel einen Chinesen in Aktion sah. Meist gegen einen Briten. Zehn Chinesen waren jetzt schon für die Titelkämpfe qualifiziert gegen – noch – zahlenmäßig überlegene Briten. Und tatsächlich setzt sich einer aus dem Reich der Mitte durch: Der 28-jährige Zhao Xintong. Auf dem Weg zum ersten WM-Sieg eines Chinesen kegelte er die Snooker-Ikone Ronnie O&bdquo;Sullivan im Halbfinale aus dem Wettbewerb und ließ anschließend dem dreimaligen Champion Mark Williams aus Wales im Finale keine Chance.

Wieder eine Sportart, in der China wohl über Jahre hinweg in der Sportwelt dominieren kann wie im Tischtennis oder im Wasserspringen. Angeblich, die Zahlen sind nicht so ganz genau überprüfbar, spielen bereits 60 Millionen Chinesen Snooker. Das wäre so, als würde jeder Italiener (58 Millionen Einwohner) diesem Spiel verfallen sein. Und, auch angeblich, verfolgten 500 Millionen Chinesen die Spiele der Weltmeisterschaft an den Fernsehgeräten.

Sperre wegen Wettbetrug Das sind schwindelerregende Zahlen, wie immer, wenn China im Spiel ist mit seinen 1,42 Milliarden Einwohnern. Und so hält sich auch ein Gerücht, sehr hartnäckig übrigens, dass die künftigen Champions in Bälde in China gekürt werden und nicht mehr wie bislang immer in Sheffield, dem Mekka dieser Sportart. Nur zehn Minuten vom &bdquo;Crucible Theatre“, den heiligen Hallen im Snooker, entfernt, hat übrigens Zhao Xintong seine feste Bleibe. Nichts wurde vor seinem Triumph dem Zufall überlassen. Zuhause ist er längst ein Superstar. Ein Pele, ein Maradona, ein Beckenbauer. Und auch Millionär (560.000 Euro gab es Preisgeld für den Sieg in Sheffield), was er als Tischtennisspieler oder Wasserspringer nie geworden wäre.

Wieder hat China eine Aufholjagd gestartet, ganz so wie es der große Vorsitzende Xi Jinping wünscht. Allerdings ist auch überliefert, dass er es bevorzugen würde, im Fußball eine ähnliche Rolle spielen zu können, wie jetzt im Snooker. Doch alle Versuche, auch mit renommierten und bekannten Trainern aus Europa (unter anderem etwa Marcello Lippi), brachten nicht den erhofften Erfolg. Nicht alles ist eben planbar und umsetzbar und gerade dort, wo viel Intuition, gepaart mit freiheitlichem Geist, gefragt ist, kommt China im Sport nicht voran. Zhao Xintang ist, bei allem natürlich vorhandenem Talent, einer, der aus einer unvorstellbar großen Menge junger Spieler geformt wurde, um für China Ehre einzulegen.

Mit der Ehre ist das freilich auch so eine Sache, denn in seiner Heimat darf er momentan gar nicht spielen. Er wurde für zwei Jahre wegen Wettbetrugs bis zum 1. Juni dieses Jahres gesperrt. Der schöne Schein im Snooker muss bereits gegen böse Schatten kämpfen und die elegante Party mit den vielen Chinesen ist wie viele im richtigen Leben vielleicht doch nur Blendwerk.

Zum Autor: Sigi Heinrich Der vielfach prämierte Sportjournalist (u.a. Gewinner des Deutschen Fernsehpreises, des Bayerischen Sportpreises und nominiert für den renommierten Grimme-Preis), Buchautor, langjähriger Sportredakteur der Süddeutschen Zeitung und seit 1989 Kommentator bei Eurosport, widmet sich in seiner wöchentlichen Kolumne der gesamten Vielfalt des Sports und wildert gerne auch in fremden Gefilden. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal nachdenklich oder bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

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