Sigi´s Spitzen | Ablenkung von der Politik

Es war schon wirklich viel auf einmal, was man als mündiger Bürger und Sportfan am vergangenen Wochenende zunächst einmal aufnehmen und mitunter auch verdauen musste. Es war Schwerstarbeit vor allem für den Kopf. Der Körper konnte sich ausruhen, bis auf den Gang zu den Wahlkabinen vielleicht. Die Informationen kamen wie Schockwellen, wie Brecher nach einem Tsunami. Natürlich standen in Deutschland die Wahlen in Hessen und Bayern im Mittelpunkt. Und um es mit sportlichen Vokabeln zu bezeichnen: Die rechte Außenbahn wurde verstärkt bespielt auf Kosten der Mitte. Von der linken Seite kam nichts mehr. Sie ist verwaist. Diese einseitige Verlagerung macht Angst, denn die taktische Ausrichtung ist derart simpel, dass sie leider viele Menschen verstehen. Auf dem Ball steht nur ein Motto: Migration. In der letzten Werbephase vor der Wahl benötigten die Spieler auf der rechten Seite nicht mal einen ganzen Satz, um viele Menschen für sich einzunehmen. Ein Wort genügte, das mehrmals wiederholt wie mehrere Paukenschläge wirkt. Abschieben, abschieben, abschieben. Man kann dem Team auf dem rechten Flügel ja nicht einmal einen Vorwurf machen, denn sie haben schlicht den Zeitgeist erkannt, während die Führungscrew nie in der Lage war, komplizierte Zusammenhänge einfach zu erklären. Und dann schaltete die Ampel, die für das Spiel im Grunde verantwortlich ist, ständig wie wild von einer Farbe auf die andere. Von schönen Pässen in die Spitze, von harmonischen Kombinationen oder geglückten Dribblings war seit der Übernahme der Tabellenspitze nicht viel zu sehen. Im Gegenteil. Vielfach landete der Ball beim Gegner, der schlau genug war, diese Geschenke anzunehmen. Noch ist es keine Zeitenwende. Noch scheint man der Verlagerung von der rechten Seite auch zur Mitte hin Grenzen setzen zu können. Dass dafür eine gemeinsame Kraftanstrengung notwendig ist, hat das Match deutlich gezeigt. Wieder ein Weltrekord im Marathon Glücklicherweise, auch um die doch sehr sorgenbehafteten Gedanken etwas zu entspannen, wurde der Sportbetrieb trotz der Wahl weitergeführt. In München fand sogar ein Marathon statt, der nicht der Resultate wegen in die Schlagzeilen kam. Ein junger Mann starb während des Laufes. Der 24jährige kollabierte und konnte nicht gerettet werden. Fast vernachlässigbar ist angesichts dieser Meldung die Tatsache, dass die Organisation alles andere als optimal war. Es gab mehrere Streckenfehlleitungen. Die Männer liefen zu viel, die Frauen zu wenig. Im fernen Chicago hingegen passte alles, so dass es einen neuen Weltrekord durch Kelvin Kiptum (Kenia) gab. Mit 02:00:33 blieb er als erster Mensch der Welt unter zwei Stunden und einer Minute und kratzte bei seinem erst dritten Marathon die Schallgrenze von zwei Stunden, die wohl noch in absehbarer Zeit in einem normalen Rennen fallen dürfte. Für ein Highlight sorgte auch die Niederländerin Sifan Hassan, die nach London auch ihren zweiten Marathon gewann. Diesmal in 02:13:44 Stunden. Es ist die zweitschnellste jemals gelaufene Zeit bei den Frauen und neuer Europarekord. Dann ab in die Wahlurne, denn das ist klare Bürgerpflicht, wobei das etwa in Luxemburg, wo auch gewählt wurde, sehr ernst genommen werden muss. Es herrscht Wahlpflicht, was ich mir manchmal überall wünschen würde. Auch im zweitkleinsten europäischen Staat wurde übrigens die Spielverlagerung auf die rechte Seite deutlich. Aus einem kleinen Land kommt auch der schnellste Mann der Welt, der freilich auch in einem flotten Auto sitzt. Max Verstappen ist es dabei bei seinem dritten WM-Titel in Folge gelungen, die Anerkennung für den Erfolg vor allem auf seine Person zu lenken. Er kann immerhin rechts oder links überholen, ohne dass das Gesamtkunstwerk Schaden nimmt. Der Belgier ist ein Mittelstürmer, der jede Chance nutzt. Ein Ausnahmepilot, wobei ich Vergleiche zu Vorgängern vor ihm scheue, denn bei aller Wertschätzung muss der jeweilige fahrerische Untersatz ja auch dem Können des Fahrers angepasst werden. Das ist wohl in dieser Saison erneut perfekt gelungen. Goldbarren für Lukas Dauser Und noch eine Meldung möchte ich an dieser exponierten Stelle ansprechen. Deutschlands Volleyballer haben sich in Rio de Janeiro für die Olympischen Spiele in Paris im nächsten Jahr qualifiziert. Und ja, es ist eine kleine Sensation oder zumindest eine faustdicke Überraschung, den das Team um den 38-jährigen Rückkehrer Georg Grozer (&bdquo;Hammerschorsch“) bezwang die eigentlich favorisierten Italiener und Brasilianer in ihrer Gruppe und sicherte sich ungeschlagen nach 2012 wieder ein Olympiaticket. Für beide ist freilich das Turnier im nächsten Jahr in der französischen Hauptstadt noch möglich. Über die Weltrangliste (Italien ist mit dem Südtiroler Zuspieler Simone Giannelli nach neuestem Stand auf Rang drei) kann man sich auch noch qualifizieren. Für Deutschland wäre das nicht möglich gewesen mit dem zehnten Rang, weshalb der Sieg in Brasilien dringend notwendig war. Einen Goldbarren hält derweil der Bayer Lukas Dauser in den Händen. Er gewann bei der Kunstturn-Weltmeisterschaft in Antwerpen an seinem Lieblingsgerät. Zuletzt holte sich 1985 Sylvio Kroll an diesem Gerät den Titel. Die lange Zeitspanne macht auch deutlich, wie ungeheuer schwierig es ist, an die Spitze einer Sportart zu kommen. Allenthalben bedarf es eines langen Atems. Geduld ist dabei eine nicht zu unterschätzende Tugend. Wie schnell freilich diese auch verloren gehen kann, zeigen die Wahlergebnisse des Wochenendes in Verbindung auch mit einer klaren Erkenntnis: Wenn wir nicht ernst genommen werden, regieren wir mit Liebesentzug, anders als Fans eines Vereines, die auch in schwierigen Zeiten zu ihrem Club halten. Zum Autor: Sigi Heinrich Der vielfach ausgezeichnete Sportjournalist, Buchautor und Eurosport-Kommentator der ersten Stunde (seit 1989) widmet sich in seiner Kolumne &bdquo;Sigi`s Spitzen“, der gesamten Vielfalt des Sports und beobachtet dabei auch die gesellschaftlichen Veränderungen, die ja immer auch Auswirkungen auf den Sport haben. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal ernst oder auch bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

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