Kolumne: Jannik Sinner wie Boris Becker

Es ist gerade viel die Rede von &bdquo;Identifikationsfiguren“. Vermutlich sind damit jene Menschen in besonderen Positionen gemeint, die es schaffen, zunehmend gefährdete Werte weiterhin glaubhaft zu vermitteln. Heimat ist so ein Begriff, der schwer zu greifen ist aber von großer Bedeutung sein kann. Die Sprache gehört dazu und auch deren dialektische und sehr unterschiedliche Färbung.

Thomas Müller vom FC Bayern etwa ist einer, von dem sich gerade Bayern besonders repräsentiert fühlen. Ein &bdquo;Hiesiger“ halt. Auf Bastian Schweinsteiger traf das auch zu im Land der Flagge mit den Rauten in blau und weiß. Oder weiter oben im hohen Norden, in Hamburg, wo sich die Welt öffnet. Da residierte Uwe Seeler. &bdquo;Uns Uwe“. So haben ihn seine zahlreichen Fans genannt. Gerade so, als säße er immer mit am Mittagstisch bei Hausmannskost. Einem Matjesbrötchen vielleicht, wie den Kollegen eben stets die Weißwurst mit Brez'n angedichtet wird und der unweigerlich mit Bayern verbundene Schweinsbraten mit einer Kruste, die laut kracht, wenn man in sie hineinbeißt. Denn jeder weiß: Die Kruste ist das Wichtigste.

Tennis-Legende Boris Becker. © AFP / JULIEN DE ROSA

Aber ich will nicht abschweifen. Da gab es nämlich auch noch &bdquo;Bobbele“. Den jüngsten 17-jährigen Leimener aller Zeiten, der uns 1985 mit seinem ersten von insgesamt drei Wimbledontiteln auf die Tennisweltbühne beförderte. Und er ist immer noch aktiv mit seinem &bdquo;verlängerten Arm“, auf den er nach wie vor vertrauen kann, wie er uns in einem Werbespot vermittelt. Gut, man muss sich an den Alterungsprozess gewöhnen, der auch an Boris Becker nicht spurlos vorüber gegangen ist.

Aber es ist schön, ihn immer wieder zu erleben mit erkennbarem Schalk, der aus seinen Augen blitzt. Vielleicht wurde er oft unterschätzt. Ich habe ihn kennengelernt bei den Olympischen Spielen in Paris, als wir gemeinsam zum Kunstturnen fuhren im bequemen VIP-Shuttle. Er hat die Gabe, prominent und zugleich bodenständig zu sein. Eine Identifikationsfigur. Zweifellos.

Steffi Graf in den USA Steffi Graf war dagegen eher unnahbarer und konnte durch die räumliche Trennung von ihrer Heimat nach dem Ende der Karriere (lebt in den USA mit Ehemann Andre Agassi) die Rolle als deutsche Heldin, geliebt von allen, nicht in vollem Umfang ausspielen. Das war auch nie ihr Wunsch. Der Respekt vor ihrer Leistung ist indes unverändert groß und es ist jedes Mal auch eine Freude, wenn sie sich in der ehemaligen Heimat zeigt.

Auch Lothar Matthäus ist ein deutscher Sportheld. © APA/afp / RONNY HARTMANN

Jetzt müsste natürlich fast schon zwangsläufig der Name von Lothar Matthäus fallen, dem deutschen Fußball-Rekordnationalspieler. Ein Franke, also in weiterem Sinn auch ein Bayer. Er ist zwar nach wie vor am Ball, erreicht aber trotz intensiver Unterstützung der Boulevard-Presse nicht annähernd die Beliebtheit eines Thomas Müller oder Bastian Schweinsteiger. Das hat nichts mit seinem privaten Leben und den vielen Schlagzeilen außerhalb des Sports zu tun.

Matthäus wirkt plakativ und verblasst gegenüber den Kollegen, was den Charme angeht, der dazugehört, wenn man sich abheben und trotzdem dazugehören will. Erfolge alleine bringen nicht automatisch Punkte in der Sympathiewertung. Von diesem Standpunkt aus gesehen müsste etwa der Tennisspieler Alexander Zverev in der Beliebtheitsskala längst ganz oben stehen, auch wenn er noch nie ein Grand-Slam-Turnier gewonnen hat. Aber er ist Olympiasieger. Doch der Faktor &bdquo;Identifikation“ sticht nicht, obwohl er in Hamburg geboren ist und seit Kindertagen beim Uhlenhorster HC spielt.

Seine Eltern kamen 1991 aus Russland nach Deutschland, weshalb es schon aus diesem Grund für Zverev schwer bis unmöglich ist, eine ähnliche Popularität zu erreichen wie etwa Boris Becker, dessen Werdegang damals eine ganze Nation zum Tennisschläger greifen ließ. Ähnlich wie Deutschland zum Radsport-Land wurde, als Jan Ullrich die Tour de France gewann, ehe er später zum gefallenen Helden wurde.

Eine Heimat für das Herz Der Sport schafft es immer wieder, Vorbilder zu generieren, bis hin sogar zu Lichtgestalten wie Franz Beckenbauer. Die Lücken, die von der Politik gerissen werden, füllt der Sport mit seinen Protagonisten immer wieder auf. Wir sind stolz auf deren Leistungen und werden für einen Wimpernschlag des stressigen Lebens in eine heile Welt entführt. Auch andernorts ist das so. Maradona in Argentinien oder Pelè in Brasilien haben die Menschen beglückt, begeistert und ihnen auch eine Heimat für ihr Herz gegeben.

Eine ähnliche Entwicklung ist gerade auch in Südtirol zu sehen mit Jannik Sinner, der mit seinen 23 Jahren schon zur Legende hochstilisiert wird. Das mag ein wenig früh sein aber auch hier ist ein Muster zu erkennen. Seht her ihr da draußen, was eine kleine Region, ja was ein kleines Land, vollbringen kann. Wir, ja wir sind Weltklasse. Wir sind die Nummer eins. Und wir lassen uns das auch nicht durch irgendwelche Dopinggeschichten kaputtmachen. Und auch die Tatsache, dass unser Jannik in Monte Carlo lebt, tangiert uns nicht.

Sinner ist eine perfekte &bdquo;Identifikationsfigur“ für seine Landsleute. Und ehrlich: Ein wenig neidisch kann man da schon werden. Das kann nur ein wenig abgemildert werden durch die Erinnerung an Beckers große Zeit, in der er, wie auch Sinner, die Gegner vor allem auf den schnellen Plätzen zur Verzweiflung trieb. Und in der wir uns total stolz fühlten und bestens in der Welt vertreten. &bdquo;Wir“ waren auch alle die Nummer eins. Damals.

Zum Autor: Sigi Heinrich Der vielfach prämierte Sportjournalist (u.a. Gewinner des Deutschen Fernsehpreise, des Bayerischen Sportpreises und nominiert für den renommierte Grimme-Preis), Buchautor, langjähriger Sportredakteur der Süddeutschen Zeitung und seit 1989 Kommentator bei Eurosport, widmet sich in seiner wöchentlichen Kolumne der gesamten Vielfalt des Sports und wildert gerne auch in fremden Gefilden. Man mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal nachdenklich oder auch bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

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