Nachdenken mit Jannik Sinner

Ich müsste Jannik Sinner eigentlich böse sein. Denn geplant war am Sonntag eine winterliche Wanderung. Eine, die fast schon Tradition ist. Das Wetter war perfekt. Strahlender Sonnenschein hätte alle Gipfel bei der bekannten grandiosen Rundumsicht beleuchtet wie Spotlicht. Der Schnee war noch nicht matschig. Das Knirschen bei jedem Schritt hätte man gehört und gespürt. Ein Traum.

Doch Jannik Sinner, der ja auch Schnee liebt, legte Einspruch ein gegen dieses Vorhaben und zwang mich auf das Sofa, denn mein Herzblatt ist Tennisfan und wäre mit mir fast schon mal nach New York geflogen zu den US-Open. Karten für das Finale hatte ich schon. Aus terminlichen Gründen wurde dann doch nichts daraus und wer weiß: Vielleicht war es ja auch zu früh, denn Jannik Sinner spielte zu diesem Zeitpunkt noch keine tragende Rolle im Tennisgeschehen. Möglicherweise wird das Thema irgendwann noch einmal aktuell, denn die Chance, dass Sinner dann auch dort ins Finale einzieht, ist ab sofort stets allgegenwärtig. Ich habe mich zudem ja nicht notgedrungen zu einem TV-Vormittag bei Wintermärchenwetter überreden lassen, sondern wollte natürlich auch dieses Endspiel sehen. Schließlich klingelte schon beim Halbfinale gegen Djokovic früh der Wecker. Ich wollte dabei sein bei der Wende hin zur neuen Generation im Tennis. Wir haben beide keine Sekunde bereut. Novak Djokovic und Jannik Sinner beim Halbfinale der Australian Open. © APA/afp / MARTIN KEEP

Ich habe zugegebenermaßen schon viele sportliche Highlights miterlebt in vielen Sportarten. Das blieb nicht aus in den über 40 Jahren als Sportjournalist. Schnelle Zeiten, tolle Ballwechsel, Traumtore, zirzensische Übungen im Kunstturnen, emotionale Momente, die man nie vergessen wird. Wie seinerzeit 1996 bei den Olympischen Spielen in Atlanta, als bei der Eröffnungsfeier Muhammed Ali aus den Katakomben ins gleißende Licht der Scheinwerfer tauchte und mit zitternder Hand das olympische Feuer entzündete. Er war schon gezeichnet von Parkinson. Jedes Wort, das gesagt werden sollte damals, blieb im Hals stecken. Zum Glück, denn dieses Bild eines gefallenen Helden brannte sich ein für ewig und jedes Wort hätte den Moment zerstört. Denn auf sehr intensive und vor allem überraschende Art und Weise wurde uns so deutlich vor Augen geführt, wie vergänglich doch das Leben ist und wie kurz nur die Zeit, die einem bleibt.

Für Spitzensport bleibt nur kurze Zeit Gerade einem Spitzensportler, der, wenn er nicht gerade Springreiter ist, Segler oder Schachspieler, sind nicht viele Jahre gegeben, in denen er seinen Sport ausüben kann. Es sind mehr geworden mittlerweile, weil das Bewusstsein, dass der Körper das Kapital ist, enorm gewachsen ist. Ernährungsberater, Physiotherapeuten, Psychologen, Athletik-Trainer und Manager gehörten längst zur Entourage eines Spitzensportlers, weshalb Mitte Dreißig noch kein Thema zu sein scheint. Aber irgendwann, frag nach bei Novak Djokovic, Roger Federer oder Rafael Nadal, irgendwann um diesen Zeitraum lässt die Energie nach. Es ist ein schleichender, ein gemeiner Prozess. Er lässt sich verzögern aber er ist letztlich nicht aufzuhalten.

Zum Glück muss sich Jannik Sinner damit noch nicht auseinandersetzen. Er ist erst 22 Jahre alt. Die Hochrechnung ist einfach. Er hätte demnach noch jede Zeit der Welt, auch die Rekordmarken von Djokovic anzugreifen. Der Serbe begann seine Siegesserie von Grand-Slam-Titeln (24) übrigens in Melbourne 2008. Damals war er 21 Jahre alt. Vielleicht, wer weiß, ist das ein gutes Omen für den jungen Mann aus Sexten. Eine Zeitenwende ist es allemal. Neben Sinner gehört wohl Carlos Alcaraz, Casper Ruud oder Alexander Zverev die Zukunft. Aber natürlich wird sich Sinner nicht mit solchen Überlegungen herumschlagen. Das machen wir, weil wir Zeilen füllen wollen und weil wir uns mit dem Geschehen und seinen Auswirkungen beschäftigen dürfen. Manchmal, aber wirklich nur in Ausnahmefällen, dürfen wir auch Fans sein.

Die andere Seite des Lebens In diesem Fall komme ich nicht in Gewissenskonflikte, denn Tennis gehört mittlerweile zu den Sportarten, die ich nicht mehr kommentiere, wobei ich bei Sinner gerne noch einmal am Mikrophon gesessen wäre wie früher. Aber wahrscheinlich war es ganz gut so. Ich wäre zu parteiisch gewesen, denn meine Lebensgefährtin ist nicht nur Tennisfan, sondern auch aus dem Pustertal. Wir haben dann statt der geplanten großen Wanderung nur eine gemütliche Runde ohne große Höhendifferenzen absolviert und dabei natürlich auch noch einmal das Spiel analysiert. Jannik Sinner mit dem Pokal für den Gewinn der Australian Open. © APA/afp / ANTHONY WALLACE

Wir haben über die Heimat des neuen Sporthelden aus Südtirol gesprochen. Sexten. Das kleine Bergdorf am Fuße der Drei Zinnen, wie die internationale Presse jetzt gerne schreibt. Und bei der Erwähnung der Ortschaft erreichte uns auch der Schatten des Lebens. Jubel an einem Tag in der Gemeinde und tiefe Trauer am Tag darauf. Das kam uns in den Sinn, denn am Montag, einen Tag nach Sinners grandiosem Sieg, fand der Auferstehungsgottesdienst für Monika Tschurtschenthaler und ihre Söhne Matthäus und Kassian in der Pfarrkirche von Sexten statt mit der anschließenden Beerdigung. Alle drei wurden bei einem Autounfall aus dem Leben gerissen. Wir gingen still so vor uns hin. Schritt für Schritt. Wichen manchen Eisplatten aus, die sich auf schattigen Flächen gebildet hatten. Spuren eiskalter Nächte, die noch geblieben sind.

Die Gedanken drehten sich wohl bei uns beiden um dieses Dasein auf unserer Erde und der stets wiederkehrenden Tatsache, dass Glück und Leid doch immer wieder so furchtbar eng beieinander liegen. Man muss wohl mit beidem leben lernen. Und vielleicht ist es ja so, dass beides untrennbar miteinander verbunden ist. Wahrscheinlich sogar. Der Freude über Sinners Erfolg tut das ja keinen Abbruch.

Zum Autor: Sigi Heinrich Der vielfach ausgezeichnete Sportjournalist (u.a. Gewinner des Deutschen Fernsehpreises und des Bayerischen Sportpreises), Buchautor und Eurosport-Kommentator der Ersten Stunde (seit 1989) widmet sich in seiner Kolumne &bdquo;Sigi´s Spitzen“ der gesamten Vielfalt des Sports und wildert darüber hinaus auch leidenschaftlich in fremden Gefilden. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal ernst und nachdenklich oder auch bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

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Auch unser Kolumnist Sigi Heinrich erliegt dem Zauber des neuen Tennisstars aus Sexten, verzichtet deshalb auf eine schöne Winterwanderung und spürt am Ende dieses besonderen sportlichen Tages bei einem Spaziergang trotz aller Freude die Schatten des Lebens auf.

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