Eine gewaltige Rücktrittswelle erfasst den Biathlon-Sport

Erst kräuselte sich das Wasser nur ein wenig und umspülte beinahe zärtlich die Fußfesseln. Ein paar Augenblicke später schwappte schon eine kleine Welle an die Schienbeine. Das ging so weiter bis hin zu einem Schwall, der einen fast von den Beinen riss. Es waren keine Auswirkungen eines Tsunami. Zum Glück. Aber es war ein handfester Sturm, der schier immer wieder neue Nahrung erhielt. Ein Orkan der Rücktritte, wie ich ihn in solcher Stärke im Biathlon noch nie erlebt habe. Fast jede Stunde meldete das Handy eine neue Nachricht mit der Bekanntgabe einer weiteren Athletin, die im nächsten Jahr nicht mehr an der Strecke und am Schießstand zu sehen sein wird. Vorwiegend ging es um die Damen der Zunft, auch wenn etwa der Schweizer Serafin Wiestner nun ebenfalls adieu sagte. Aber das notieren nur Insider.

Es ist keine Zeitenwende, die ja im Augenblick so aktuell ist, sondern eine Zäsur für den Biathlonsport, denn es tritt fast geschlossen die absolute Elite zurück. Marte Olsbu Roiseland und Tiril Eckhoff aus Norwegen, Denis Hermann-Wick aus Deutschland und Anais Chevalier-Bouchet aus Frankreich. Es kommen gut und gerne mehrere Olympiasiege und weit über 20 Weltmeistertitel zusammen, die dieses Quartett gesammelt hat. Sie haben über Jahre in ihrem Sport Akzente gesetzt, jede auf ihre ganz eigene Art. Und sie haben alle ihre eigene Geschichte. Marte Olsbu war ein Wildfang als Jugendliche, zog schon mit 15 Jahren von zuhause aus und fand durch den Sport Stabilität und ihre Liebe bei Sverre Roiseland, der jetzt Trainer in Deutschland ist. Tiril Eckhoff tat sich lange schwer im norwegischen Team und wurde vor allem durch den Südtiroler Patrick Oberegger zu einer Spitzenathletin geformt. Eckhoffs Sensibilität wurde lange nicht erkannt, weshalb sie erst relativ spät zu geballter Leistungsstärke fand. Hermann-Wick kam über den Langlauf, der ihr auch schon Olympiamedaillen brachte, zum Biathlon und avancierte auch dort dank ihrer Zielstrebigkeit und ihres wirklich eisernen Willens zu einer der Besten ihres Metiers. Sie ist stets Vorbild gewesen, ein Motor im Team, eine, zu der man aufschauen konnte. Anais Chevalier-Bouchet war eher meist unauffällig aber eine perfekte Teamspielerin. Sie wurde 2019 Mutter einer Tochter und war so nebenbei eben auch bis auf die Unterbrechung durch die Schwangerschaft zehn Jahre im Team.

Es gibt ein Leben nach dem Sport Jetzt haben sie die Fesseln des Leistungssports abgeworfen. Sie sind alle mehr als 30 Jahre alt, wie auch Vanessa Hinz oder Franziska Hildenbrand, die während der laufenden Saison bereits einen sportlichen Schlussstrich gezogen haben. Unsereiner kann die Befindlichkeiten der inneren Uhr bei Frauen, die angeblich immer lauter tickt, je älter man wird, nicht nachvollziehen. Das muss ich schon ehrlich zugeben. Der Mann an sich, auch als Biathlet, macht sich da eher wenig Gedanken, wenn das Alter fortschreitet. Wie am Österreicher Simon Eder zu sehen ist, kann man auch mit 40 Jahren noch in die Top-Ten kommen. Ole Einar Björndalen beendete mit 44 Jahren seine wahrlich einmalige Karriere. Aber bei den Frauen im Sport, das lehren uns einige Beispiele, ist das doch gewaltig anders. Da steht die Familienplanung nicht plötzlich aber doch immer intensiver im Focus. Hermann-Wick will ein Haus bauen in Ruhpolding. Ich kenne die Pläne nicht, gehe aber fest davon aus, dass mindestens ein Kinderzimmer eingezeichnet wurde. Und Anais Chevalier-Bouchet ist des Reisens müde. Sie freut sich auf ein ruhiges Familienleben. Im Grunde haben alle eine lange Zeit ihres Lebens in den Sport investiert, ehe sie auf die andere Seite der Medaillen geschaut haben. Andere hielten es nicht so lange aus. Die beiden deutschen Ausnahmetalente Magdalena Neuner und Laura Dahlmeier beendeten Mitte Zwanzig ihre außergewöhnlichen Auftritte. Die Gründe waren vielschichtig, wie immer. Neuner ist mittlerweile Mutter dreier Kinder und Dahlmeier genießt ihre Freiheit, indem sie die Welt auf ihre ganz und gar eigene Art entdeckt. Und hieß es nicht damals schon: Oh weh, jetzt droht dem Biathlonsport in Deutschland das Ende. Doch es ist noch immer weitergegangen. Überall. Das wird auch diesmal so sein.

Junge Athletinnen sehen ihre Chance, rücken nach. In Norwegen, in Deutschland und auch in Frankreich. Erste Hinweise und Beispiele hat die vergangene Saison schon gebracht. Das Weltcupfinale in Oslo in diesen Tagen ist deshalb bereits ein erstes Schaulaufen nach dem kleinen Exodus. Die Biathlonszene spricht schon lange von Selina Grotian aus Garmisch-Partenkirchen, die aus der Schule von Bernhard Kröll in Mittenwald kommt, der einst Neuner und Dahlmeier geformt hat. Freuen wir uns also auf die Zukunft, ohne die Vergangenheit dabei zu vergessen, die uns so viele große Momente beschert hat durch alle jene, die dann irgendwann die Erkenntnis gewonnen haben, dass der Sport zwar wichtig war bislang, dass er aber dennoch nur ein Lebensabschnitt gewesen sein kann. Noch ist übrigens mein Handy bislang ruhig geblieben. Der Sturm hat sich augenscheinlich gelegt, doch so ganz sicher ist das eben nicht. Er kann jederzeit wieder an Stärke zunehmen, denn eine Frage treibt viele Biathlonfans um: Was macht Dorothea Wierer? Für die bald 33-jährige Südtirolern, die gerade in großer Form ist, scheint die Situation komplizierter zu sein als für ihre Kolleginnen, die nun die Skier in die Ecke gestellt haben. 2026 werden bei ihr zuhause in Antholz im Rahmen der Olympischen Spiele Mailand/Cortina die Biathlon-Wettbewerbe ausgetragen. Auf der einen Seite ist das noch lange hin, andererseits vergehen auch drei Jahre mitunter wie im Flug. Doch eine Gewähr, dass sie dann auch wirklich Olympiasiegerin wird, gibt es natürlich nicht. Es bleibt spannend. Wie so oft bei Dorothea Wierer.

Zum Autor: Sigi Heinrich Der vielfach ausgezeichnete Sportjournalist und TV-Kommentator (u.a Deutscher Fernsehpreis, Bayerischer Sportpreis, Biathlon-Award und World-Sports-Trophy) widmet sich in seiner Kolumne &bdquo;Sigi´s Spitzen“ der gesamten Vielfalt des Sports und wildert auch mal in fremden Gefilden. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal ernst oder auch bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein. Für Eurosport kommentiert er seit 1998 die Biathlon-Wettbewerbe und in diesen Tagen mit Olympiasieger Michael Rösch das Finale in Oslo.

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