Komplizierte Lage für Wierer und Co.

Schockstarre. Nichts funktioniert. Auf die Ampel ist kein Verlass mehr. Niemand weiß noch, wer Vorfahrt hat. Das Chaos ist programmiert. Schier unauflösbare Knäuel bilden sich. Wären sie nur aus Blech, was man bei einer kaputten Ampel vermuten könnte, wäre das noch erträglich. Doch dieses Gewirr besteht aus Fragmenten, die kaum noch zu entwirren sind. Entstanden aus Leichtsinn und erzwungener Vorfahrt im Glauben, man könne sich alles erlauben, kommt alles zum Stillstand. Die Ampel blinkt wild und unkontrolliert.

Das Verfassungsgericht hat die deutsche Regierung und ihr wildes Finanzgebaren gestoppt. Und die österreichischen Kicker haben die Auswahl des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) in ihre Einzelteile zerlegt. Es läuft wahrlich nicht gerade gut im Moment zwischen Nordsee und Karwendel. Wir wollen, ja wir brauchen endlich mal wieder ein paar gute Nachrichten, damit wir nicht vollends in eine vorwinterliche Depression schlittern. Da trifft es sich ganz gut, dass am Wochenende endlich wieder das volle Wintersportprogramm Fahrt aufnimmt, vor allem mit nordischem Skisport und Biathlon.

Im Biathlon geht es wieder zur Sache. © TT NEWS AGENCY / ANDERS WIKLUND

Skispringer, Langläufer und Kombinierer sind in Ruka (Finnland) und die Skijäger, wie sie früher so liebevoll genannt wurden, starten im schwedischen Östersund mit einer Mixed-Staffel und zwei folgenden Einzelrennen. Wie auch in den vergangenen Jahren haben sie zunächst den Alpinen den Vortritt lassen müssen, den diese freilich erneut vieler Absagen wegen nicht nutzen konnten, um sich schon mal vorab die Gunst der Wintersportfans zu sichern. Gut, Wetterkapriolen können auch den Skispringern einen Streich spielen, sogar den Biathleten, vor allem wenn Nebel aufzieht. Doch das hat nach wie vor Seltenheitswert und kommt höchstens in Oberhof vor oder auch in Oslo.

In Östersund bestaunt man hingegen das farbenprächtige Lichterspiel, wenn der kurze Tag der Dunkelheit weichen muss. Der beschauliche Ort mit seinem wunderbaren Weihnachtsmarkt, schön gelegen am See Storsjön, ist erneut Schauplatz für den Saisonstart eben jenes Wintersports, der vor allem in Deutschland die Massen bewegt. Zu sehen ist das jedes Jahr immer wieder bei den Weltcups in Oberhof oder Ruhpolding. Und auch in Antholz sind die Fans aus Deutschland stets klar in der Überzahl.

Nur noch ein deutscher Star ist übrig Natürlich sorgten vor allem immer wieder die vielen Erfolge der DSV-Athletinnen und Athleten in den letzten Jahren für stets gleichbleibend hohes Interesse. Doch so allmählich gehen Deutschland die Erfolgsgaranten aus. Von den Helden der Vergangenheit, die auch mit Weltmeistertiteln aufwarten können, ist nur noch Benedikt Doll übriggeblieben. Ansonsten muss Deutschland wie fast jede andere Nation zwei Jahre vor den Olympischen Spielen in Mailand/Cortina (die Biathlonwettbewerbe finden in Antholz statt) eine neue Generation in sicheres Fahrwasser führen. Das ist überall die größte Herausforderung.

Hoffnungsträger der Deutschen: Benedikt Doll. © AFP / CHRISTOF STACHE

Nicht einmal die Norweger sind davor gefeit. In ihrem Damenteam stehen derzeit nur noch zwei Athletinnen, die über Weltcuperfahrung verfügen. Die Rücktritte von Marte Olsbu Roeiseland und Tiril Eckhoff haben das Team um den Südtiroler Trainer Patrick Oberegger zutiefst erschüttert. Und auch die deutschen Frauen müssen ohne Denise Herrmann-Wick auskommen. Eine Neuorientierung im Mannschaftsgefüge ist damit in Deutschland ebenso notwendig und zwangsläufig wie etwa auch in Frankreich.

Dort eskalierte im Sommer die Zusammenarbeit mit Julia Simon, der besten Biathletin des vergangenen Jahres, durch gewaltige interne Spannungen, verbunden mit Betrugsvorwürfen. Die Harmonie ist dahin. Und Anais Chevalier-Bouchet hat zudem ihre Karriere beendet. Es kann so durchaus bei den Damen die Saison der jungen Wilden werden, die in vielen Nationen zuletzt bereits gezeigt haben, dass sie flügge geworden sind. Viele aus der Generation von Dorothea Wierer sind nicht mehr dabei, weshalb neue Namen und extrem viel Bewegung in die Teams gekommen ist.

Die Skipräparierung ohne Fluor wird entscheidend sein Ob die in den letzten Monaten in vielen abwechslungsreichen Trainingskursen angeeignete Form auch abgerufen werden kann, ist in dieser Saison freilich mit einem dicken Fragezeichen versehen. Es wird vielen, manche sagen sogar, es wird alles darauf ankommen, wie die Techniker, die für die Skipräparierung verantwortlich sind, mit dem Fluorverbot zurechtkommen. In den bisherigen Vorbereitungsrennen hat sich dabei gezeigt, dass augenscheinlich und für mich nicht unerwartet Norwegen der Konkurrenz in diesem Bereich schon weit enteilt zu sein scheint. Es gab sogar Beileidsbekundungen von norwegischen Athleten an die Konkurrenz.

Ola Lunde, ehemaliger Trainer von Ole Einar Björndalen und mittlerweile seit vielen Jahren ein guter Kollege und Freund von mir beim norwegischen Fernsehen, schlug beinahe schon Alarm. &bdquo;Das macht es fast schon langweilig und deprimierend“, sagte er nach den Testrennen in Susjoen, wo alle Norweger und auch Norwegerinnen ihre Gegner in der Loipe zu Statisten degradierten. Da sie zudem noch den Überflieger der Szene, Johannes Thingnes Bø, in ihren Reihen haben und auf die gesamte Mannschaft der vergangenen Jahre zurückgreifen können, wird der Weg auf das Podest bei den Männern für alle vermutlich erneut nur über Norwegen gehen, zumal bei weitem nicht so viele Nachrücker im Herrenbereich antreten wie etwa bei den Damen.

Die Wahrheit liegt auf dem Schießstand Aber wie immer im Sport gilt bange machen ja nicht. Während im Fußball die Wahrheit auf dem Platz liegt, befindet sie sich im Biathlon sehr häufig am Schießstand. Dort gibt es keine Fluorregel, weshalb auch die Trefferquote nach wie vor einen entscheidenden Anteil am Gesamtergebnis haben wird. Klar hingegen ist, dass eben auch für uns am Mikrophon die Sache noch schwieriger wird, weil wir ja nicht auf die Skiunterlage schauen können und schon gar nicht das Befinden aller Teilnehmer kennen können.

Es sind einfach zu viele, denn nach wie vor hat man es nicht geschafft, die Teilnehmerfelder etwas zu reduzieren. In vielen Rennen werden mehr als einhundert Aktive an den Start gehen und so wird mitunter ein allgemeines Rätselraten stattfinden in Verbindung mit vielen Theorien. Meiner Vorfreude tut das wie vor jedem Winter keinen Abbruch und mein Partner, Olympiasieger Michael Rösch, wird auch genug zu tun haben. Seine Expertise ist bei der komplizierten Sachlage im Moment jedenfalls Gold wert.

Zum Autor: Sigi Heinrich Der vielfach ausgezeichnete Sportjournalist (u.a. Gewinner des Deutschen Fernsehpreises), Buchautor und Eurosport-Kommentator der ersten Stunde (seit 1989) widmet sich in seiner Kolumne &bdquo;Sigi´s Spitzen“ der gesamten Vielfalt des Sports und wildert darüber hinaus auch gerne in fremden Gefilden. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal ernst oder auch bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein. Für Biathlon ist er seit genau 25 Jahren am Mikrophon und hat in dieser Zeit alle Weltcuprennen begleitet.

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