Lisa Vittozzi: Das große Vorbild

Ohne Startnummer geht natürlich nichts im Wintersport. Über den üblichen Rennanzug, egal in welcher Sportart, muss oft noch ein weiteres Kleidungsstück gezogen werden. Der Aufdruck darauf ist wegen seiner Sichtbarkeit viel Geld wert. Sponsoren können sich dort in ordentlicher Größe präsentieren und umgeben die jeweilige Startnummer. Und man glaubt es kaum: Befestigt werden sie manchmal immer noch mit Sicherheitsnadeln. Der amerikanische Mechaniker Walter Hunt hat sich diese Konstruktion 1849 patentieren lassen. Ein Leben ohne sie wäre auch heute noch undenkbar. Die Biathleten freilich haben etwa im Gegensatz zu den Leichtathleten die kleine Stahlkonstruktion hinter sich gelassen und schlüpfen in eigens angefertigte Trikots, die dann, über dem Anorak bei der Preisverteilung etwa, ziemlich auftragen.

Während des Rennens hingegen stören sie kaum, auch wenn sich, je nach Rennsituation, ihr Gewicht zu verändern scheint. Frag nach bei Lisa Vittozzi. Ich gehe mal davon aus, dass so eine bedruckte Weste etwa 300 Gramm wiegt. Für die Italienerin aus Sappada (Plodn) hatte sie beim letzten Auftritt in dieser Saison, dem Massenstart in Canmore, plötzlich das Gewicht einer Bleiweste. Sie schoss gleich beim ersten Liegendschießen zweimal vorbei und ging mit den zwei Strafrunden im Gepäck fast als letzte Läuferin wieder auf die Strecke. Und mit einem Mal schien der Sieg im Gesamtweltcup in weite Ferne gerückt zu sein trotz der 61 Punkte Vorsprung, die sie sich durch ihre zwei vorherigen Siege in Kanada gesichert hatte.

Die Last der Führung Die Nummer eins war jetzt eine Last, ein Zusatzgewicht, das scheinbar nur sie mitschleppen musste auf die glücklicherweise gut präparierte Piste. Der große Traum, als zweite Azzurra nach Dorothea Wierer die große Kristallkugel zu gewinnen, machte die Beine schwer. Jeder Schritt schien eine Qual zu sein und die 50m entfernten Schließscheiben wurden mit jedem Schuss immer kleiner. Vittozzi verlor ihre Leichtigkeit. Fünfmal musste sie letztlich in die Strafrunde. So oft wie nie zuvor in einem Rennen dieser Saison. Die Furcht ihrer immer größer gewordenen Fangemeinde vor einem Supergau, einem Scheitern auf der Zielgraden, war greifbar. Letztlich profitierte sie auch von der nachlassenden Konzentration ihrer ärgsten Kontrahentin im Kampf um den Gesamt-Weltcup, Ingrid Landmark Tandrevold.

Wären der Norwegerin statt ihrer drei Fehler nur einer unterlaufen, wäre es noch einmal eng geworden. So aber wurde die Norwegerin Achte und weil es im mittleren und hinteren Ergebnisbereich nur minimale Abstände bei der Punktevergabe gibt, reichte es für Vittozzi, die für ihren 21. Platz (der schlechtesten Platzierung in der gesamten Saison) 20 Punkte erhielt. Tandrevold bekam für ihren achten Rang auch nur 34 Zähler und so verringerte sich der Vorsprung von Vittozzi nur um 14 Punkte von den vorhandenen 61. Auch wenn es optisch so aussah, als wäre es extrem spannend, war es nach dem ersten Stehendschießen im Grunde entschieden.

Eine innige Umarmung im Ziel Das &bdquo;Gelbe Trikot“, Sinnbild für die Spitzenposition in vielen Sportarten, war ja eigentlich kein Fremdkörper für Vittozzi. Sie bekam es nach dem ersten Wettkampf dieser Saison, als sie in Östersund (Schweden) den Einzelwettkampf gewann. Schon im zweiten Rennen musste sie es wieder abgeben und sah es bis Canmore immer wieder bei ihrer Konkurrentin. Jeder Griff danach ging in der Folgezeit ins Leere. Noch auf dem Flug von Soldier Hollow (USA) nach Kanada hatte Trandrevold das Objekt der Begierde in ihrem Koffer. Vittozzi träumte 17 Rennen lang vom großen Wurf wie schon einmal, als sie dann auf der Zielgeraden vor fünf Jahren in Oslo Dorothea Wierer unterlag und im Sprint gar nur den 68. Platz belegte. Ob Erinnerungen daran wieder wie ein Gespenst auftauchten, ist nicht überliefert. Aber klar ist geworden, dass dieses &bdquo;Gelbe Trikot“ auch eine Belastung sein kann und dass es mitunter schwerer ist, es zu verteidigen als es sich zu holen. Erst als man ihr auf der Strecke, versteckt noch von den Kameras, die italienische Fahne überreichte und sie damit auf die Zielgerade einbog, schien die Zentnerlast von ihr abzufallen. Jetzt endlich leuchtete das &bdquo;Gelbe Trikot“ wie eine Sonne und umrandete das charmante und so sympathische und auch Bescheidenheit ausstrahlende Lächeln der Lisa Vittozzi, die danach zugab, dass sie auf den letzten Metern wie ein Baby geheult habe.

Der Moment des Glücks: Lisa Vittozzi läuft am Sonntag auf die Zielgerade ein. © Lisa Vittozzi

Jetzt verlieh ihr sogar die Bleiweste Flügel. Was danach noch folgte, war ein überragendes Beispiel sportlicher Fairness und grundehrlicher Anerkennung. Ihre große Kontrahentin, Ingrid Landmark Tandrevold, umarmte Lisa Vittozzi und diese schlang ihre Arme um die etwas kleinere Norwegerin. So standen sie minutenlang im Zielraum als wäre die Zeit stehen geblieben. Für einen Moment waren sie der Welt entrückt. Zwei Gegnerinnen, zwei Sportlerinnen. Es war für mich das Bild dieser Saison bei allem Jubel aller anderen und der vielen Feierlichkeiten, die nun anstanden, weil einige ja auch (Mona Brorsson, Pepe Femling, beide Schweden oder Benedikt Doll, Deutschland) ihre Karriere offiziell beendeten.

Lisa Vittozzi hat dem Biathlonsport indes mehr gegeben als nur einen sportlich auf höchstem Niveau stehenden Wettkampf über eine ganze Saison. Sie, die schon einmal wirklich am sportlichen Tiefpunkt stand, zeigte allen, dass es sich lohnt, nicht aufzugeben. Sie ist stärker denn je zurückgekehrt. Innerlich scheinbar jetzt gefestigt, besticht sie durch ihr unaufgeregtes Auftreten. Sie ist eine perfekte Botschafterin ihrer Sportart, weil sie glücklicherweise nicht verzweifelt um Anerkennung heischt in diesen von Social-Media geprägten Zeiten. In zwei Jahren ist sie bei den Olympischen Spielen in Italien 31 Jahre alt. Im besten Alter, um der Farbe Gelb dann noch mehr Nachdruck zu verleihen. Mit Medaillen in Gold. Noch gibt es weiterhin Träume. Zum Glück.

Zum Autor: Sigi Heinrich Der vielfach ausgezeichnete Sportjournalist (u.a. Gewinner des Deutschen Fernsehpreises und des Bayerischen Sportpreises), Buchautor und Eurosport-Kommentator der ersten Stunde des Senders (seit 1989) widmet sich in seiner Kolumne &bdquo;Sigi´s Spitzen“ der gesamten Vielfalt des Sports und wildert darüber hinaus auch gerne in fremden Gefilden. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal nachdenklich oder bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

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