Norwegische Arroganz

Es ist doch, so wird uns allenthalben suggeriert, es ist doch jetzt also vorbei mit diesem Coronavirus, das uns jetzt schon ein gefühltes halbes Leben begleitet und so vieles durcheinander gebracht hat. Die Aufarbeitung der verschiedenen Institute, die der Politik die Richtlinien vorgab, ist in vollem Gang. Dass manche Verbote nicht dringend notwendig gewesen waren, wird allmählich klar. Vor allem das Kindeswohl hat stark gelitten. Allerdings darf und sollte man allen zugestehen, dass die verstörenden Bilder beim Ausbruch der Pandemie (ich erinnere an Bergamo) manche Maßnahmen, die sich im Nachhinein als zu rigide herausgestellt haben, befeuerten. Es war für alle Neuland und eine neue Grenzerfahrung im Leben. Wir blicken also jetzt zurück? Nein, es ist noch viel zu früh dafür.

Corona hat sich nicht einfach verabschiedet, sondern ist immer noch allgegenwärtig und hat mächtig Einfluss. Im Biathlon etwa hat das Virus dafür gesorgt, dass in dieser Woche schon die Entscheidung über den Gesamt-Weltcup bei den Männern gefallen ist, obwohl noch einige Rennen zu absolvieren sind. Johannes Thingnes Bø gewann so zum vierten Mal die große Kristallkugel, weil sein zumindest nominell noch möglicher Konkurrent Sturla Holm Laegreid schon zuletzt in Nove Mesto na Moravje (Tschechien) fehlte. Auch in diesen Tagen in Östersund (Schweden) ist der zweitbeste Norweger nicht in der Startliste. Der Beste übrigens auch nicht, zumindest bis zum Sonntag oder wer weiß, auch noch darüber hinaus. Der Dominator hat Corona, sein Bruder Tarjei auch. Erwischt hat es übrigens auch mit Quentin Fillon-Maillet den besten Franzosen, den Ukrainer Dmytro Pidruchnyi und den Schweden Sebastian Samuelsson, der erst kürzlich bei der Weltmeisterschaft in Oberhof (Deutschland) den Titel im Massenstart gewann.

Sieg und Platz zwei trotz Corona Normalerweise sind das einfach nur Nachrichten oder Bekanntmachungen. Corona wird wie eine Muskelverspannung gesehen, die halt eben einen Wettkampf für den Moment unmöglich macht. Doch in diesem speziellen Fall hat der positive Corona-Test vor allem bei den Bø-Brüdern eine neue und nicht besonders angenehme Seite im Team der Norweger offenbart. Johannes Thingnes und sein älterer Bruder Tarjei sind in Tschechien trotz Corona an den Start gegangen, haben wundersamerweise auch noch Platz eins und zwei belegt und sind dann mit Maske zur Siegerehrung marschiert. Alle dachten, dass die beiden halt besonders vorsichtig sein wollen. Niemand vermutete zunächst, dass sie infiziert waren.

Die Brüder gemeinsam bei der Siegerehrung. © APA/afp / MICHAL CIZEK

Sie hätten, soviel ist längst klar, nicht starten sollen. Ein Verbot existiert nicht. Corona ist ja offiziell besiegt. Während aber Laegreid oder Fillon-Maillet sich ihrer Verantwortung bewusst waren, ritt die Norweger wohl der Teufel. Ihre sportliche Überlegenheit führte augenscheinlich zu einem kompletten Realitätsverlust, der darin gipfelte, dass sie auch noch in den Charter-Flieger der IBU nach Östersund einsteigen wollten. Der norwegische Teamchef Per Arne Botnan avancierte zum Märchenonkel und erzählte die Geschichte vom wundersamen Luftaustausch im Flugzeug, der eine Verbreitung des Virus verhindern würde. Proteste vieler Aktiver verhinderten dies. Botnan musste umbuchen und seine beiden Stars gesondert und mit anderen Flügen nach Schweden schicken. Die norwegischen Biathlonasse haben sich mit ihrer Aktion keinen Gefallen getan. Die verdiente Bewunderung ob ihrer bisherigen Leistung hat kräftige Kratzer bekommen. Ein ziemlich intensiver Anflug von Arroganz geht einher mit dem zum Ausdruck gebrachten Gefühl, man sei in jeder Lebenslage unbesiegbar. Rücksichtnahme und Vorsicht gegenüber allen, die im Biathlonlager sind, wurde mit einem Handstreich über Bord geworfen.

Norweger auf dünnem Eis Die norwegischen Asse bewegen sich gerade auf sehr dünnem Eis. Zu sehen war das auch bei der nordischen Ski-Weltmeisterschaft in Planica (Slowenien) als der viermalige Gesamtweltcupsieger in der nordischen Kombination, Jarl Magnus Riiber, noch mitten im Rennen beim Wettkampf von der Normalschanze im abschließenden Langlauf einfach mal sehen blieb. Er legte die Hand an die Stirn und deutete damit an, dass er die Konkurrenz suche. Es war ein zutiefst respektloses Verhalten. Immerhin hat er niemanden damit geschadet, nur seinem persönlichen Ruf. Die Biathlonbrüder hingegen haben billigend in Kauf genommen, dass sie das Virus möglicherweise an ihre Konkurrenten weitergeben könnten. Der Schwede Martin Ponsiluoma war auf dem Podest in Nove Mesto als Drittplatzierter ganz nahe an Johannes und Tarjei Bø.

Nicht ganz außen vor lassen darf man indes jetzt die Diskussion um die sogenannten Streichresultate, die bisher immer möglich waren. Zwei oder drei Rennen fielen bislang aus der Wertung, so dass gesundheitliche Probleme zum Teil nicht so stark ins Gewicht fielen. Mit dem neuen System, in dem alle Ergebnisse berücksichtigt werden, fühlen sich manche Athleten quasi gezwungen, auch bei kleineren Anzeichen etwa einer Erkältung dennoch an den Start zu gehen. Ob die Bø’s dann auf ihren Einsatz zuletzt mit dem Coronavirus im Körper verzichtet hätten, weiß niemand und wäre nur ein spekulativer Ansatz. Der Schaden ist jetzt erst einmal angerichtet und ist so schnell auch nicht mehr zu reparieren. Über dem zweifellos großen Erfolg des Johannes Thingnes Bø liegt nun ein Schatten. Mit Fingerspitzengefühl und normalem sozialen Verhalten hätten die Norweger diese vermeiden können.

Der Autor: Sigi Heinrich

Der vielfach preisgekrönte Sportjournalist und TV-Kommentator (u.a. Deutscher Fernsehpreis, Bayerischer Sportpreis, Biathlon-Award, World Sports-Trophy) widmet sich in seiner Kolumne &bdquo;Sigi´s Spitzen“ der gesamten Vielfalt des Sports und wildert gerne auch mal in anderen Gefilden. Mal launig und mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal bierernst oder auch bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein. Heinrich war nach seinem Sportstudium an der TU München zehn Jahre Redakteur der Süddeutschen Zeitung und gehört seit den Anfangsjahren von Eurosport 1989 zum festen Stamm der Kommentatoren. Die Biathlonszene verfolgt er am Mikrophon seit einem Vierteljahrhundert.

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