Wierer und der Jugendstil

Die Außerirdischen: Berge, Gletscher und tief eingeschnittene Küstenfjorde prägen Norwegen. In der Hauptstadt Oslo kann man Wikingerschiffe aus dem neunten Jahrhundert bestaunen und man stellt auch fest, dass Elektroautos schwer in Mode sind (50 Prozent aller Neuzulassungen sind elektrisch). Es gibt keine Kohlekraftwerke und keine Atommeiler. Wasserkraftwerke decken fast 90 Prozent des Strombedarfs. Und obwohl es eines der am dünnsten besiedelten Länder Europas ist, geben seine Sportler im Winter so klar den Ton an, dass der Rest oft nur noch ehrfürchtig staunen kann. Ob Skispringen, Ski Alpin oder Langlauf: Die Skandinavier sind vorne. Im Biathlon ist die Überlegenheit bei den Männern schier erdrückend, weil Johannes Thingnes Boe schier unschlagbar zu sein scheint. Er hat 11 von 14 Rennen gewonnen und war noch zweimal auf Platz drei. Nur einmal patzte er. So sieht er das wohl auch mittlerweile. Zum Saisonauftakt landete er auf dem 12. Platz. Vergessen.

Gäbe es ihn nicht, wäre Sturla Holm Laegreid der führende Biathlet. Und ohne die beiden vermutlich Vetle Sjästad Christiansen. Und dann gibt es noch den älteren Bruder von Johannes, nämlich Tarjei Boe und dahinter eine ganze Armada von hochtalentierten Biathleten, die allesamt im Dutzend Weltklasse sind und im Weltcup gar nicht eingesetzt werden können. Eine derartige Überlegenheit einer Nation hat es noch nie gegeben. Das Geheimnis dahinter ist der Konkurrenzkampf im Team und auch der soziale Antrieb, denn es gibt keine vom Staat geschaffene Absicherung über Bundeswehr oder Zollteams wie in anderen Ländern. Nur die Versorgung durch den Skiverband mit Trainern und etwa Physiotherapeuten ist gewährleistet. Das System ist gnadenlos, auch wenn das gerne überspielt wird. So beklagte sich die beste Biathletin, Marte Olsbu Roeiseland, dass sich vom Verband niemand um sie gekümmert hatte, als sie die ersten Wochen aus gesundheitlichen Gründen keine Wettkämpfe bestreiten konnte. Jetzt ist sie zurück und die große Hoffnung, denn Norwegens Damen sind ohne sie auch ohne Sieg bislang geblieben.

Französische Frauenpower: Im Sommer ist Julia Simon auf der Alm ihrer Großeltern und hilft aus bei allen Arbeiten, die eben dort anfallen. Für nichts ist sie sich zu schade. Und wenn noch ein wenig Freizeit bleibt, beschäftigt sie sich mit Holzschnitzereien und damit auch mit dem Schaft ihres Gewehres. Die Biathletin, die im gelben Trikot nach Oberhof reist, ist ausgebildete Schreinerin und in sich ruhend. Aus der Kraft der Berge ihrer Heimat kommt die Energie dieser Powerfrau und vielleicht denkt sie ab und zu auch daran, dass in ihrem Wohnort Geschichte geschrieben wurde, denn erstmals durften Frauen bei den Olympischen Spielen 1992 in Albertville um Medaillen im Biathlon kämpfen. In der Hochebene von Les Saisies. Dort findet sie perfekte Trainingsbedingungen vor.

Julia Simon dominiert diesen Winter. © ANSA / LUCIANO SOLERO

Dabei hat sie sich, wie alle ihre Kolleginnen, enorm verbessert. Läuferisch und auch am Schießstand, der bisweilen ihre Schwäche war. Diese ist ausgemerzt, schneller als gedacht, denn Simon ist eine ungeduldige Athletin. Ihr Trainer Jean-Paul Giachino sagte ihr, dass sie zwei Jahre investieren müsse, um eine bessere Schützin zu werden. Er hat sich glücklicherweise geirrt. Hinzu kommen junge Biathletinnen im Team wie Lou Jeanmonnot und Sophie Chaveau, die aus dem IBU-Cup heraus schon im ersten kompletten Weltcupjahr den Durchbrach geschafft haben. Und die Chevalier-Schwestern komplettieren dieses Team. Die Zukunft ist zudem gesichert. Justine Braisaz-Bouchet, die dieses Jahr pausiert, ist schwanger. Entweder bekommen die Herren Verstärkung oder die Damen. Aber das wird noch ein Weilchen dauern.

Olympisches Feuer: Die fünf Ringe sind allgegenwärtig im italienischen Biathlon-Team. Bei den Männern und bei den Frauen. Und so ist nach der Ära mit Andreas Zingerle kein Stein mehr auf dem anderen geblieben. Mit Klaus Höllrigl wurde ein neuer Sportdirektor installiert, der auch ein neues Trainerteam aufstellte mit internationaler Erfahrung durch den Finnen Jonne Kökhönen, wobei er da einem allgemeinen Trend folgte. So viele ausländische Trainer wie in dieser Zeit gab es noch nie in den verschiedenen Mannschaften.

Der Blick ging im italienischen Team deshalb sofort in die nahe Zukunft, weshalb sich die Jugend ein Stelldichein gibt. Bei den Männern und bei den Frauen. Beim Weltcup in Antholz startete in der Männerstaffel der 21jährige Elis Zeni als Schlussläufer bei seinem ersten Weltcupeinsatz und der Shootingstar der Azzurri, Tommaso Giacomel (schon sechs Mal in den Top-Ten) ist ebenso wie Didier Bionaz erst 22 Jahre alt und auch Patrick Braunhofer aus Ridnaun, der Startläufer war, grüßt mit 24 Jahren. Sollte Lukas Hofer den Formaufbau nach seiner langwierigen Entzündung am Schienbein bis zur WM schaffen, wäre er im Team der klare Alterspräsident.

Dorothea Wierer geht es ähnlich und sie mag sich vielleicht auch daran erinnern, wie sie als Juniorin durchstartete. Ihre Mitstreiterinnen sind alle gerade mal eben in ihr drittes Lebensjahrzehnt eingestiegen. Rebecca Passler (21), Hannah Auchenthaler (21) und Linda Zingerle (20). Da ist es gut, dass Lisa Vittozzi (27) ihre zwei zuletzt erfolglosen Jahre überwunden hat und gemeinsam mit Wierer wieder im Kreis der Elite auftaucht. Beide haben in dieser Saison auch schon ein Weltcuprennen gewonnen. Der Mut der italienischen Führung im Biathlon hat sich früher ausgezahlt, als das wohl alle vermuten konnten. Derart konsequent hat keine andere Nation auf den Nachwuchs gesetzt. Es macht schlicht Spaß, die Entwicklung der jungen Wilden zu verfolgen. Und die Olympischen Spiele 2026 sind schneller vor der Türe, als man glaubt. Die Zeit hat es immer eilig.

In Lauerstellung: Der Schwede Sebastian Samuelsson hat sich im Sportzentrum von Östersund ein eigenes Laufband eingerichtet, in dem man im Sommer den Winter überlisten kann. Auch Steigungen kann man einstellen. Nichts, wirklich nichts lässt er unversucht, um auf den Thron zu kommen. Von Erfolg gekrönt sind seine Kraftanstrengungen bislang noch nicht. Er war in dieser Saison noch nie auf dem Podium und ist im Weltcup nur auf einem für ihn sicher unbefriedigenden 13. Platz. Besser lief es bei seinem Kollegen Martin Ponsiluoma (5.). Dennoch hatten die Schweden insgesamt viel mehr erwartet. Immerhin lief es bei den Damen besser durch die Siege von Anna Magnusson, Hanna Öberg und ihrer jüngeren Schwester Elvira, die immerhin dreimal gewann.

Die geplante Überlegenheit indes blieb auch hier aus, obwohl vor der Saison wahre Wundertaten von den Schwedinnen erwartet worden waren. Eher bescheiden gingen sowohl die deutschen Damen wie auch die deutschen Herren in diese Saison. Die großen Schlagzeilen machten im Deutschen Ski-Verband (DSV) im Vorfeld die Trainerverpflichtungen von Sverre Roeisland, dem Ehemann von Marte Olsbu für die deutschen Damen und des Slowenen Uros Velepec für die Männer. Um die erfahrenen Denise Hermann-Wick und Benedikt Doll formieren sich jüngere Athletinnen und Athleten. Die große Supernachwuchsinitiative, wie sie etwa Italien startete, blieb indes aus. Die große Biathlonnation Deutschland muss sich in Bescheidenheit üben, wobei wohl nur Denise Hermann-Wick in Oberhof Siegchancen eingeräumt werden können. Aber alle Mannschaften und alle Nationen reisen nach Thüringen in dem sicheren Wissen, dass zum einen Überraschungen immer möglich sind und dass vor allem die vielen Staffelrennen, die es gibt, gute Möglichkeiten sind, um Medaillen zu gewinnen.

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