Die Suche des Daniel Grassl

Über die Karriere von Alois Lutz gibt es bedauerlicherweise nicht viel zu berichten. Der Österreicher starb 1918 in Wien an Lungentuberkulose. Er wurde nur 19 Jahre alt. Und dennoch hat er der Nachwelt eine bleibende Erinnerung hinterlassen. Nach ihm ist nämlich im Eiskunstlauf der &bdquo;Lutz“ benannt. Als 15jähriger zeigte er den Sprung erstmals. Der Absprung erfolgt dabei von der Außenkante des linken Beines, während das rechte Bein nach hinten ins Eis sticht. Revolutionär war das seinerzeit. Erst 1962 wurde der Sprung von Donald Jackson dreifach gezeigt und weitere 49 Jahre dauerte es, ehe der US-Amerikaner Brandon Mroz in einem offiziellen Wettbewerb diesen Sprung mit vier Umdrehungen um die Körperlängsachse zeigte. Längst ist diese Variante Teil aller Vorstellungen im Eiskunstlauf. Auch Daniel Grassl aus Meran hat den &bdquo;Lutz“ in seinem Repertoire bei den Europameisterschaften im finnischen Espoo.

Natürlich auch vierfach. Und normalerweise gelingt ihm dieses Kunststück traumhaft sicher. Doch diesmal ging alles schief. Nach nur zwei Drehungen setzte er zur Landung an, was zur Folge hatte, dass er dafür keinen Punkt erhielt. Diese Nullnummer war schon das Ende aller Träume, den zweiten Platz des vergangenen Jahres wiederholen zu können oder sich gar zum Europameister küren zu lassen. Ein Fehler, der nicht mehr zu kompensieren ist. Mit Matteo Rizzo (2.) und Gabriele Frangipani (7.) liegen sogar zwei seiner Landsleute vor ihm. Der Abstand zu den Medaillenplätzen ist zu groß, um noch auf irgendeine positive Wendung hoffen zu können. Nach der krachenden Niederlage bei den italienischen Meisterschaften in Bruneck mit einem vierten Platz ist es das zweite Desaster in dieser Saison für Grassl, der schon beim Grand-Prix Finale in Turin einen verunsicherten Eindruck hinterlassen hatte. Er wurde letzter der sechs Starter im Piemont, obwohl er doch mit einer Medaille geliebäugelt hatte.

Wo steht er, wo ist er? Wo also steht der 20jährige im Augenblick? Oder vielleicht ist es anders besser formuliert: Wo ist er im Moment? In Espoo in Finnland. Klar. Im Großraum der finnischen Metropole. Oder doch noch in Norwood, in Boston. In den USA. Oder ist er doch gerade in Moskau. Vielleicht aber auch gedanklich zumindest am liebsten in der Heimat. In Meran oder in Neumarkt, wo er in der Würth-Arena das Einmaleins des großen Eiskunstlaufens bei Lorenzo Magri gelernt hat. Daniel Grassl hat eine Odyssee hinter sich, ausgelöst durch den unstillbaren Wunsch, sich zu verbessern. Dafür hatten alle Verständnis und fanden das sicherlich auch mutig. Auf in den Westen. Nach drei Monaten kam in den USA die Erkenntnis, dass ihm die Freunde und das Umfeld in der Heimat fehlen. Vielleicht auch die Dolomiten und eine schöne Portion Speckknödel, die es im Land der Riesenburger nicht gibt. Er trat leicht desillusioniert sicherlich die Rückreise an. Aber es war wenigstens eine neue, wenn auch schmerzhafte Erfahrung. Kaum zu Hause zog es ihn wieder in die Ferne. Auf in den Osten hieß diesmal die Devise.

Daniel Grassl im EM-Einsatz. © APA/afp / DANIEL MIHAILESCU

Er unterwarf sich dem strengen Regime der nicht unumstrittenen Trainerin Eteri Tutberidze, die bei den Olympischen Spielen im Rampenlicht stand, als ihr Schützling Kamila Walijewa unter dem Druck der Dopinganschuldigungen nur Vierte wurde, obwohl sie doch die haushohe Favoritin war. Die ans herzlos grenzende und Verachtung ausstrahlende Betreuung der damals 15jährigen offenbarte deutlich, dass Verlierer in ihrem System nicht geduldet werden. Grassl musste das wissen und dennoch machte er diesen Schritt, vielleicht in der Hoffnung auf weitere Verbesserungen, vor allem auch im künstlerischen Bereich. Dabei hätte er gewarnt sein müssen. Tutberidze und ihr Trainerstab stehen hauptsächlich für schier unschlagbaren weiblichen Nachwuchs, von dem fast alle Vierfachsprünge im Repertoire haben. Der Georgier Morisi Kvitelashvili, der schon länger in Moskau trainiert, scheiterte in Finnland zum wiederholten Mal. Diesmal beendete er den Axel nach nur einer Umdrehung. Auch das war wie bei Grassl eine Nullnummer und warf ihn gar auf den 16. Platz zurück.

Guter Rat ist schwer Guter Rat mag im Falle von Grassl wohl kaum möglich sein. Die Verunsicherung dieses großen Talents ist indes schier mit den Händen zu greifen. Als einziger Teilnehmer dieser Europameisterschaften steht hinter der Rubrik &bdquo;Coach“ seiner Biographie kein Name. Es ist eine Leerzeile, die fast bedrohlich wirkt wie ein tiefes gähnendes Loch. Alle Namen der Vergangenheit und der Gegenwart scheinen im Moment nicht aktuell zu sein. Vielleicht weiß nicht einmal der Südtiroler selbst, wer jetzt sein bester Ansprechpartner ist. Dabei wäre gerade das mindestens so wichtig, wie die technischen Hinweise für die Sprünge und die Ideen für ein schönes Programm.

Vermutlich noch viel, viel wichtiger. Aus der Leere in den USA in die Leere Russlands zu ziehen, gerade jetzt, wo das Land einen fürchterlichen Krieg angezettelt hat, war sicherlich ein fragwürdiger Schritt. Aber war denn niemand da, der ihm das hätte ausreden können? Er ist erwachsen, ja, aber er ist als Eiskunstläufer immer noch erst am Anfang einer Karriere, die ihren ersten ganz großen Höhepunkt bei den Olympischen Spielen 2026 in Italien finden soll. Bis dahin und möglichst eigentlich schon in gebotener Eile sollte sich Daniel Grassl wiederfinden. Im Moment wirkt er wie ein Getriebener und es schmerzt fast ein wenig, wenn man sieht, wie hier ein großes Talent im Augenblick in der Eiskunstlaufwelt aus der Balance gerät. Ich würde ihm wieder zu einem festen Engagement in Neumarkt raten, denn es war schon immer so, dass letztlich die Heimat durch nichts zu ersetzen ist.

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