Sigi´s Spitzen: Grassls mutige Rückkehr

Eine Medaille für seinen Mut sollte Daniel Grassl schon mal erhalten, bevor das Grand-Prix-Finale in Turin startet. Der 20-jährige Südtiroler hat sich nämlich entschieden, jetzt doch nicht weiter in den USA zu trainieren. Nach nur drei Monaten zu Besuch in Massachusetts buchte er wieder einen Flug zurück nach Europa. Ein Einmalticket. Warum das mutig ist? Grassl verließ das sportliche Nest, in dem er groß und flügge geworden war. Boston statt Neumarkt. Einen größeren Unterschied kann es kaum geben.

Und jetzt kehrt er zurück. Reumütig, geläutert, enttäuscht, frustriert. Wer weiß. Ich würde eher meinen, dass er noch rechtzeitig erkannt hat, dass die Welt in einer der ältesten Städte der USA nicht seine werden kann, trotz hervorragender Trainingsbedingungen. Der hochtalentierte Eiskunstläufer macht somit schon in jungen Jahren eine Erfahrung, die manche ein Leben lang umgehen. Er muss sich ein gewisses Scheitern eingestehen, eine Fehlentscheidung akzeptieren. Und er musste den richtigen Schluss daraus ziehen und zuhause wieder anklopfen. Dazu gehört Mut.

Die Würth-Arena bleibt Heimat Wollten wir nicht alle schon mal unserem gewohnten Leben den Rücken zukehren? Mal raus aus der Enge, die uns mitunter gnadenlos festzuhalten scheint. Vielleicht in die ewige Sonne? Auswandern einfach. Es sind zumeist Träume, die immer dann etwas intensiver werden, wenn es gerade mal nicht rund läuft, egal in welcher Beziehung. Dann lockt die Sehnsucht, verbunden mit der Hoffnung, dass woanders alles besser werden würde.

Daniel Grassl steht im Mittelpunkt. © ANSA / GUILLAUME HORCAJUELO

Bei Grassl war es indes ja gut. Lorenzo Magri formte ihn in der &bdquo;Grey Goose Academy“ in der Neumarkter Würth-Arena zu einem der besten Eiskunstläufer Europas. Gekrönt wurde der Weg auch schon durch den Gewinn der Silbermedaille bei der Europameisterschaft 2021 in Tallin. Der 7. Platz bei den Olympischen Spielen zeigte, dass Grassl auch gegen die starke Armada aus den USA und Japan überzeugen kann, denn genau diese Herausforderung kommt jetzt wieder auf ihn zu. Und es mag vielleicht eine kleine Rolle gespielt haben, dass ausgerechnet in Turin das große Grand-Prix-Finale stattfindet. Zumindest könnte es ein kleiner Mosaikstein bei seiner Entscheidungsfindung gewesen sein.

Er ist wieder in seinem Umfeld, auch sprachlich gesehen. Grassl hat der Hafer gestochen, er ist vielleicht ein wenig übermütig geworden, weil er natürlich wie viele auch der Meinung war, dass die USA das Land der unbegrenzten Möglichkeiten sei, auch in seinem Metier. Und so ganz von der Hand zu weisen ist das nicht, denn viele international anerkannte Trainer unterrichten dort. Auch Olga Gantischeva und Alexei Letov in Boston gehören dazu. Grassl hatte sich zuvor umgehört und ist nicht leichtfertig und unvorbereitet die neue Liaison eingegangen.

Kampf gegen vier Japaner Seine Rückkehr ist kein Scheitern, ganz und gar nicht. Eher hat da einer schon in jungen Jahren seine Reifeprüfung hingelegt. Natürlich bleibt seine Aktion, die gerade mal drei Monate dauerte, nicht ohne Wirkung. Daniel Grassl steht nun bei der anstehenden Veranstaltung in Turin (ab heute bei Eurosport) noch intensiver im Mittelpunkt, als dies als Lokalmatador ohnehin der Fall ist.

Dabei ist es notwendig, seine Chancen sportlich fair einzuordnen, denn normalerweise kommt ein Eiskunstläufer mit einem vierten Platz bei zwei Grand-Prix-Wettbewerben (Boston) und einem Sieg (Sheffield) nicht in ein Finale. Dass dies in dieser Saison geklappt hat, liegt auch an dem besonderen Umstand, dass der Südtiroler vor allem bei seinem Erfolg in Sheffield nicht auf die stärkste Konkurrenz traf. Dazu ist der Japaner Yuzuru Hanyu nicht mehr dabei und Olympiasieger Nathan Chen kümmert sich um seine akademische Ausbildung und ließ die Saison bislang aus. Grassl nutzte freilich die Gunst der Stunde und trifft nun in Turin auf vier Japaner und vor allem auf den US-Amerikaner Ilia Malinin, der als erster Eiskunstläufer der Welt einen vierfachen Axel in einem offiziellen Wettbewerb sprang.

Die Rückkehr auf italienisches Eis wird deshalb für Daniel Grassl alles andere als ein Selbstläufer werden, egal wie viele Vierfachsprünge er auch anbieten wird. Für den gebürtigen Meraner geht es vielmehr in erster Linie darum, wieder Fuß zu fassen. Im wahrsten Sinne des Wortes, auch wenn er dies auf schmalen Kufen tun muss. Wenn er Sechster wird in Turin wäre das kein Beinbruch, denn auch schon die Teilnahme weist ihn als momentan sechstbesten Eiskunstläufer der Welt aus. Und vier Japaner dürfen normalerweise bei Weltmeisterschaften nicht an den Start gehen. Es ist schön, dass Daniel Grassl künftig wieder in Neumarkt trainieren wird, um von dort aus seine Eiskunstlauf-Welt zu entdecken. Es ist ihm vermutlich in der kalten Fremde klar geworden, dass es in der Heimat vielleicht doch am schönsten ist. Gerade auch zur Weihnachtszeit. Nur wer diese Erfahrung auch selbst gemacht hat, weiß um die wahre Bedeutung dieser Erkenntnis. Welcome back.

Zum Autor: Sigi Heinrich Der vielfach ausgezeichnete Sportjournalist (u.a. Deutscher Fernsehpreis und Bayerischer Sportpreis), Buchautor und Eurosport-Kommentator widmet sich in seiner regelmäßigen Kolumne &bdquo;Sigi´s Spitzen“ der gesamten Vielfalt des Sports und mitunter wildert er auch in fremdem Terrain. Mal mit einem schmunzelnden Augenzwinkern, mal bierernst oder auch bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein. Seit 1998 kommentiert er zudem alle Eiskunstlaufwettbewerbe für Eurosport.

Fußball

Italien

Internationale Ligen

International

Eishockey

Tennis

Wintersport

Mehr

Motorsport

Radsport

Wassersport

Favoriten

Sigi´s Spitzen: Grassls mutige Rückkehr

Kommentare (0)