Der Auftakt des Ski-Weltcups irritiert

Ach, lassen wir es doch allen Unkenrufen zum Trotz richtig krachen. Feiern wir kernig, ausgelassen, frohgemut und unbeschwert in die nächste Jahreszeit hinein. Stürzen wir uns in den Winter. In den Weltcup- Skiwinter zunächst einmal. Der Auftakt in Sölden ist nämlich an diesem Wochenende.

Man glaubt es kaum, es ist auch dieses Jahr wieder Oktober geworden. Und es ist nicht zu früh, sich in den Winter hineinfallen zu lassen. Es ist fast schon wieder zu spät. Der Christbaum für Wien wurde gerade eben, wie es Tradition ist, in Südtirol geschlagen. Und schauen Sie in den Supermarkt? An der Kasse gibt es schon Adventskalender. In den Baumärkten liefern sich die verschiedenen Rentiere die ersten Rennen um den besten Platz im Regal. Die Wichtel drängen auch noch vorne und kämpfen energisch um die besten Positionen. Im Haushaltswarengeschäft liegen die Ausstecher für die Plätzchen griffbereit und garantiert wird bereits die gefühlsduselige Weihnachtsmusik bereitgelegt. Blumenläden offerieren Adventskränze. Und Krippen, wahrscheinlich aus dem 3D-Drucker, beherbergen die Flüchtlinge Maria und Josef mit ihrem kleinen Jesus. Die drei Könige aus dem Morgenland waren damals noch brav und nett und brachten sogar Geschenke mit für den Buben. Weihrauch und Myrrhe. Ein guter Stern wachte über allem. Nach Winter sieht es in Sölden aktuell noch nicht aus. Organisatoren und FIS stört das nicht. © APA / EXPA/JOHANN GRODER

Jetzt muss und soll er zunächst über Sölden leuchten. Es ist also wirklich nicht zu früh für elegante Schwünge im Pulverschnee. Halt. Schreibfehler. Es muss heißen: Für elegante Schwünge auf Gletschereis, so noch vorhanden. Auf einer Unterlage also, die auch der beste Otto Normalverbraucher mit seinen normalen Skiern und abgewetzten Kanten nicht mal im Traum in Angriff nehmen sollte. Es sei denn, man legt es auf einen Freiflug zum nächsten Spital mit dem Rettungshubschrauber Pelikan 1 an.

Bagger wühlen im Gletschereis Die Protagonisten sind bereit. Kritik am frühen Austragungstermin lässt der Internationale Skiverband (FIS) an sich abperlen wie Wasser am Auto nach einer neuen Wachspflege. Gletscher. An diesem Wort scheiden sich jetzt die Geister. Die Wasserspeicher aus den Bergen haben nämlich zuletzt am Rettenbachferner in Sölden und am Theodulgletscher in Zermatt (dort soll noch im November, dem neuen Superwintermonat, eine spektakuläre Abfahrt stattfinden) großen Besuch bekommen. Ungetüme mit mächtigen Raupen und riesigen Schaufeln haben sich wie riesige Ungeziefer in das Schweizer Eis gegraben, respektive in Tirol Geröll entfernt (das lag früher unter dem Eis), damit die Skifahrer dort eine ebene Piste bekommen. Das sah natürlich nicht besonders gut aus.

Bagger in Gletscherregionen sind keine gute Werbung. Es sieht auf den ersten Blick aus wie eine sinnlose Zerstörung in sensiblen Regionen. Man sollte allerdings mit Augenmaß an den Sachverhalt herangehen. Zwei, drei Bagger bedeuten nicht den Weltuntergang. Das Abholzen der Regenwälder in Brasilien oder Bolivien, der Anstieg des Meeresspiegels bedingt durch die Erwärmung der Erde, das Abbrechen der Eismassen an den Polen, die vielen Waldbrände und die immer aggressiveren Wetterphänomene mit Überschwemmungen, Sturmfluten, Hurrikans und Erdbeben: Das sind ein paar der Probleme, die uns viel stärker beschäftigen sollten. <a data-caption="Der Rettenbachferner wurde in den letzten Wochen mit Schneedepots aus dem Vorjahr und Gletschereis für den Saisonauftakt präpariert. © APA / EXPA/JOHANN GRODER" data-fancybox="inline-179479" target="_image" href="https://s3-images.sportnews.bz/_images/scale/1280x1280/img/2023/10/der-rettenbachferner-wurde-in-den-letzten-wochen-mit-schneedepots-aus-dem-vorjahr-und-gletschereis-fuer-den-saisonauftakt-praepariert.jpg"><img alt="Der Rettenbachferner wurde in den letzten Wochen mit Schneedepots aus dem Vorjahr und Gletschereis für den Saisonauftakt präpariert. © APA / EXPA/JOHANN GRODER" class="uk-img-preserve" src="https://s3-images.sportnews.bz/_images/scale/1280x850/img/2023/10/der-rettenbachferner-wurde-in-den-letzten-wochen-mit-schneedepots-aus-dem-vorjahr-und-gletschereis-fuer-den-saisonauftakt-praepariert.jpg" /> Der Rettenbachferner wurde in den letzten Wochen mit Schneedepots aus dem Vorjahr und Gletschereis für den Saisonauftakt präpariert. © APA / EXPA/JOHANN GRODER

Und nicht zu vergessen: Die tierische Landwirtschaft. Sie verursacht 15 Prozent aller Treibhausemissionen der Welt. Kühe sind jetzt praktisch unsere natürlichen Feinde, wenn es ums Überleben der Menschheit geht. Viel gefährlicher als Wölfe, Bären, Löwen oder Krokodile. Die paar Bagger sind vernachlässigbar, zumal Experten der Meinung sind, dass etwa der Theodulgletscher ebenso wie das Eis am Rettenbachferner vermutlich noch während unserer Lebenszeit verschwinden werden. Ohne Baggereinsatz.

Die FIS müsste ein Zeichen setzen Der Internationale Ski-Verband kann - praktisch gesehen - nicht viel zum Klimawandel beitragen. Gut, ein vernünftiger Terminplan, weniger Reisen mit dem Flugzeug wären ein Beitrag. Aber mehr, viel mehr, geht es allen, die den viel zu frühen Zeitpunkt der Rennen kritisieren, um das Zeichen, das der Verband setzen könnte und sollte, in dem er sich den veränderten Gegebenheiten anpasst.

Doch die Lobby, die im Oktober und Anfang November den Winter auch ohne Schnee überlistet, ist groß. Industrie und Tourismus gehen nach wie vor Hand in Hand wie ein untrennbares Liebespaar. Die Signale sind deutlich. Es soll uns allen wie alle Jahre wieder in Erinnerung gerufen werden, dass wir gefälligst nicht nur unsere geliebten alten Keksblechdosen aus dem Schrank holen sollen, sondern vor allem die Skier aus dem Keller. Besser noch sie entsorgen und neue kaufen. Und auch den Winterurlaub sollten wir gefälligst buchen, denn seht her, seht her, bei uns kann man schon Skifahren. Das ist die Nachricht, die plakativ verbreitet und mit Leben erfüllt wird durch das Erscheinen der gesamten Weltelite. Ja, sie sind alle dabei. Niemand springt ab, denn die Verträge mit den Verbänden und Firmen sind klar definiert. Kein Auftritt, keine Einnahmen. Und Weltcuppunkte und Preisgeld gibt es schließlich auch. Mit etwas Wetterglück schneit es sogar, so dass die Wunden der sommerlichen Operationen elegant überdeckt werden könnten. Der Rettenbachferner in Sölden. Ein Naturjuwel sieht anders aus. © APA / EXPA/JOHANN GRODER

Das Motto ist demnach klar. Wie eingangs erwähnt lassen wir es wieder und weiter krachen. Wer weiß schließlich, wie lange es noch gut geht. 90 Rennen sind geplant in dieser Saison. So viele wie noch nie. Es drängt sich der Eindruck auf, dass die Party noch einmal wie gewohnt gefeiert werden soll, bevor der Laden zusammenbricht. Augen zu und durch. Ein paar Skiläufer, vor allem diejenigen, die nicht mehr aktiv sind, heben jetzt warnend den Zeigefinger. Ansonsten geben sich alle dem Augenblick hin, so als wäre nie irgendetwas passiert in der jüngsten Vergangenheit. Keine Orkane, keine Dürre, kein Wassermangel, keine daraus resultierenden Hungersnöte in einer fernen Welt, in der nicht Ski gefahren wird im Oktober und im November. Um die daraus auch resultierenden künftigen existentiellen Probleme für ihren Sport kümmert sich die Ski-Elite natürlich schon auch. Später. Jetzt ist dafür gerade keine Zeit.

Zum Autor: Sigi Heinrich Der vielfach ausgezeichnete Sportjournalist (u.a. Gewinner des Deutschen Fernsehpreises), Buchautor und Eurosport-Kommentator der ersten Stunde (seit 1989) widmet sich in seiner Kolumne &bdquo;Sigi´s Spitzen“ der gesamten Vielfalt des Sports und wildert gerne auch in fremden Gefilden. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal ernst und nachdenklich oder auch bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

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