Der Skisport steht vor einer Zäsur

Es ist Zeit, dass wir auf die Bremse treten, denn wer bremst, sorgt für Energie. Rekuperation nennt sich das. Das Problem dabei liegt indes auf der Hand oder im Auto am Fuß, der auf das Bremspedal tritt. Wer nämlich dieses häufig betätigt, kommt schlicht nicht recht voran. Und im Stillstand wird es richtig schwer mit der quasi geschenkten Energie. Also ist das mit dem Bremsen nicht so einfach.

Frag nach bei der Deutschen Ampelkoalition. Die dreifarbige Gruppierung tritt momentan gerade vehement auf die Gaspreisbremse und muss feststellen, dass die Mechanismen nicht einfach sind. Der Tritt bleibt derzeit folgenlos. Frühestens wohl im nächsten März soll die Bremswirkung dann aber sowas von in Aktion treten. Bis dahin ist das so wie beim PKW, der steht. Nichts passiert. Und wie man irgendwie auch in der hohen Politik wissen sollte, ist im März der Winter dann so ziemlich vorbei.

Bremsen muss, das lernen wir alle, die uns die Gnade eines sündteuren Führerscheines ereilt hat, gelernt sein. Einfach so draufdrücken mit Gewalt, sorgt für schnellen, aber sehr ruppigen Stillstand irgendwann, denn natürlich hängt das von der vorher erzielten Geschwindigkeit ab. Vor allem auf nassen Straßen soll man also im Rhythmus bremsen und loslassen. Ist irgendwie also so wie auch manchmal im richtigen Leben und wäre auch im Wintersport ein System, das jetzt wirklich zur Anwendung kommen muss. Bremsen ist jetzt das Gebot der Stunde, bevor man wieder loslassen kann. Skirennen im Oktober kann und darf es künftig nicht mehr geben. Veranstaltungen auf dem Gletscher in Sölden müssen ab sofort der Vergangenheit angehören. Umsatz dank frühen Rennen Viel zu lange hat man daran festgehalten aus vielerlei Gründen. Vor allem die Industrie will möglichst weit vor dem Weihnachtsgeschäft ihre Produkte anpreisen. Die Skier nur ins Schaufenster zu stellen, ist nie genug. Man will ja durch die Rennfahrer zeigen, zu welch tollen Schwüngen man mit den Modellen kommen kann, wobei klar ist, dass ein Rennski nicht vergleichbar ist mit jenem, der dem Normalverbraucher verkauft wird.

Der internationale Skiverband (FIS) hat sich dabei stets als anpassungsfähiger Partner gezeigt. Jetzt erst recht, nachdem der neue Präsident Johan Eliasch aus der Skiindustrie kommt. Am nächsten Wochenende wollte man gar zwei spektakuläre Abfahrten am Matterhorn durchführen. Von der Schweiz nach Italien. Ohne Grenzkontrolle. Doch daraus wird nichts. Abgesagt wie auch der Riesenslalom der Frauen am vergangenen Wochenende. Es ist zu warm gewesen in diesem Sommer. Es hat kaum geregnet. Die Gletscher ziehen sich nicht etwa langsam zurück, sondern verschwinden längst atemberaubend schnell. Das alles ist und war bekannt. Und dennoch hat man an der Austragung der Rennen festgehalten. Wider besseren wissens. Der Rettenbachferner in Sölden zieht sich stetig zurück. Schon bald könnte er verschwunden sein. © APA / EXPA/JOHANN GRODER

Der Rettenbachferner in Sölden liegt in den letzten Zügen. Der Anblick ist fürchterlich. Das Schneeband der Rennstrecke darauf ist eine Farce. Wie ein Schal, der einen eitrigen Hals verdecken soll. Die Länge des Aletschgletschers in den Berner Alpen kann man bald mit dem Meterstab messen. Die Eisflächen der Zugspitze, dem höchsten Berg in Deutschland, gehören bald der Vergangenheit an. Überschwemmungen in der ganzen Welt, nicht nur in Asien, wie man gerade in Deutschland im letzten Jahr im Ahrtal so schmerzhaft erfahren hat, sind täglicher Teil der Nachrichten. Tornados und Hurrikans verwüsten Regionen. Klimawandel nennt sich das. Zum alpinen Skisport, der Schnee benötigt und Berge, weil man sonst schwerlich von oben nach unten wedeln kann, ist das alles noch nicht durchgedrungen. Das Bremspedal ist weit weg. Zweimal in die USA In dieser Saison fliegt der Tross sogar zweimal in die USA. Kritik daran scheint bei der FIS-Spitze abzuperlen. Und darauf zu hoffen, dass die Verbände mit einer konzertierten Aktion klare Kante zeigen und von sich aus auf Starts verzichten wäre so, als würde man fest daran glauben, dass sich die Gletscher von heute auf morgen schon wieder erholen könnten. Klar, die paar Schwünge im Schnee sind nicht schuld am Gletschersterben. Dass man die so wichtigen Wasserspeicher indes für sportliche Veranstaltungen nutzt, ist längst nicht mehr zeitgemäß, denn der Sport hat auch die Verpflichtung, Zeichen zu setzen. Der ORF-Kamerstand in Sölden am Samstag: Das Frauenrennen musste abgesagt werden. © APA / EXPA/JOHANN GRODER

Der Winter beginnt zudem nicht schon Mitte Oktober, wenn im Tal noch sattes Grün die Farben bestimmt und das Laub der Bäume golden glänzt. Er wird irgendwie wahrgenommen, wenn der erste Schnee zart wie Puder geschmeidig und leicht zu Boden fällt. Wir, die Menschen, wollen dabei stets der Natur ein Schnippchen schlagen und sind ungeduldig, weshalb immer neue Maschinen entwickelt werden, um etwa Schnee auch schon bei höheren Temperaturen zu produzieren. Wir holzen den Regenwald ab, wir stauen Flüsse oder zwingen sie in Betonrinnen. Wir heizen jetzt auch wieder wie in Polen mit Braunkohle, das vermutlich für die Lungen schädlicher ist als ein paar Packungen Zigaretten. Wir müllen die Meere zu mit Plastik und tun schlicht alles, wirklich alles, was gegen jede Vernunft spricht. Wir stehen ständig nur auf dem Gaspedal getreu dem Sportmotto: Wer bremst verliert.

Dabei hat sich das längst ins Gegenteil verkehrt. Es müssen nicht über 40 alpine Rennen pro Saison sein. Weniger könnte und sollte mehr sein. Und doch gehe ich jede Wette ein, dass im nächsten Jahr wieder der Weltcup-Auftakt im Oktober in Sölden stattfindet. Bremsen sollen ja immer die anderen. Egoismus schlägt Verantwortung. Dabei gibt es nur Verlierer.

Zur Person: Sigi Heinrich Der renommierte Sportjournalist, Buchautor und vielfach ausgezeichneter Eurosport-Kommentator (u.a Gewinner des Deutschen Fernsehpreises und des Bayerischen Sportpreises) widmet sich in seiner Kolumne &bdquo;Sigi´s Spitzen“ nicht nur der gesamten Vielfalt des Sports. Auch Themen außerhalb seines gewohnten Metiers beschäftigen ihn. Mal sehr ernsthaft, oft auch mit einem verschmitzten Augenzwinkern und mitunter auch bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

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