Die Berggeister schauen auf die „Gran Becca“

Zeit spielt bei Skirennen naturgemäß eine bedeutende Rolle. Nur der Schnellste gewinnt. Logisch. Es ist einfach. Es gibt keine lästigen Video-Schiedsrichter, keine Wiederholungen und visuellen Linien, die mögliches Abseits wie im Fußball anzeigen können. Die Uhr ist der Scharfrichter. Jetzt auch schon bei der Auffahrt übrigens, denn um zum Start der Abfahrt &bdquo;Gran Becca“ zu kommen, müssen die Athleten dreimal umsteigen. In diesem Fall ist das Zeitmanagement also schon weit vor dem ersten Schwung von großer Bedeutung: Wer nämlich zu spät kommt, muss mit der künstlichen Aufstiegshilfe wieder ins Tal schweben und dann fünfmal umsteigen. Natürlich haben das alle im Griff und außerdem kann man die Umgebung genießen, wenn man denn will und trotz der Rennanspannung dazu auch in der Lage ist. Vor allem der Blick auf das Matterhorn ist dabei unausweichlich.

Einer der höchsten Berge der Alpen bildet den gewaltigen Rahmen dieser neuen Schussfahrt, die in gewissen Punkten durchaus sehr speziell ist. Natürlich ist der Start auf 3700m am &bdquo;Dos di Rollin“ oberhalb von Zermatt höchst ungewöhnlich, ja einzigartig. Das Ziel befindet sich am &bdquo;Laghi delle Cime Bianche“ oberhalb von Breuil-Cervinia. Es geht also über eine Landesgrenze. Von der Schweiz nach Italien. Das hört sich jetzt so einfach an, ist aber eine Herausforderung einer ganz besonderen, neuen und auch ungewöhnlichen Art. Da ist zum einen zu klären, wo die Preisgelder für die Athleten versteuert werden. Im Land des Starts, also Schweiz oder im Land, wo sich das Ziel befindet, also Italien.

Am Matterhorn ist alles angerichtet. © ANSA / JEAN-CHRISTOPHE BOTT

Die Behördenköpfe rauchen. Und was machen wir mit der Schweizer Armee, die bei der Streckenpräparierung hilft? Dürfen sie auch auf italienischem Hoheitsgebiet die Schaufel schwingen? Die Schweiz ist ja nicht in der EU. Es ist also ein Auslandseinsatz der ganz besonderen Art für die Schweizer Soldaten. Jetzt sind es auch noch Politikerköpfe, die rauchen. Gehen wir mal davon aus, dass diese Probleme gelöst werden können, steht dem neuen Highlight im Abfahrtsrennsport nichts mehr im Wege. Fast nichts jedenfalls, denn da gibt es noch eine Kraft, die weder Schweizer noch Italiener kontrollieren können: Das Wetter. Es ist davon auszugehen, dass der Südtiroler Markus Waldner, Renndirektor des Internationalen Skiverbandes (FIS), jede Stunde mit wachsender Intensität auf die Wetterprognosen schaut, denn Sonnenschein, wie im ersten Training, gibt es garantiert nicht. Die ausgesetzte Lage der Piste ist vor allem windanfällig und kann deshalb den Rennverlauf extrem beeinflussen.

Hans Kammerlander als Vorreiter auf Skiern Dabei befinden sich die besten Abfahrer der Welt ja immer noch in einer Komfortzone. Andere starteten schon mal aus der Todeszone. Ich denke da etwa an Hans Kammerlander. Der Südtiroler bewältigte 1996 die Nordflanke des Mount Everest (8848m) auf Skiern nach einem 16-stündigen Aufstieg ohne Sauerstoff auf das Dach der Welt. Für die 4000 Meter hinunter bis ins Basislager auf dem Rongbuk-Gletscher benötigte er sechs Stunden. Mit jedem Schwung stand sein Leben auf dem Spiel. Auf der Südseite fuhr der Slowene Davo Karnicar vier Jahre später mit Skiern vom Mont Everest. Und der Pole Andrzej Bargiel investierte acht Stunden seines Lebens, um vom K2 (8611m), dem wohl gefährlichsten Berg der Welt, auf zwei Brettern bis ins Basislager auf 3600m abzuschwingen.

Johan Eliasch drängte auf die Abfahrt am Matterhorn. © APA / EXPA/JOHANN GRODER

Ganz so dramatisch oder gar lebensgefährlich ist die neue Abfahrt, ein Prestigeprojekt auch des FIS-Präsidenten Johan Eliasch, keineswegs. Ja, eigentlich hatte man sie spektakulärer erwartet, als sie sich dann im Training gezeigt hat. Das große Spektakel liefert im Grunde die Natur und auch die Geschichte. Und immer im Mittelpunkt ist das Matterhorn (4478m). Es ist einer der bekanntesten Berge der Welt, ein Wahrzeichen der Schweiz sowieso und im Grunde auch der Berg, der durch seine dramatische Erstbesteigung letztlich auch zum Sehnsuchtsort vieler Bergfreunde wurde. Die Auseinandersetzung bei der Erstbesteigung im Juli 1865 zwischen dem Engländer Edward Whymper, der von Zermatt aus aufstieg und Jean-Antonie Carrel, dem Italiener, der von Cervinia das Matterhorn am gleichen Tag in Angriff nahm, ist alpine Geschichte.

Vor allem der Abstieg der Mannschaft von Whymper mit vier Toten hat die Gefahren der Bergwelt schon damals deutlich gemacht. Der Jubel Whympers erstarb im wahrsten Sinne des Wortes in der Katastrophe. Die Leiche eines der Abgestürzten, Lord Francis Douglas, hat man bis heute nicht gefunden. Die Einheimischen hatten Whymper übrigens gewarnt. Auf dem Gipfel, so hieß es, befinde sich eine Stadt in Trümmern, bewohnt von Geistern der Verdammten. Der englische Adelige gab nach dem Abstieg zu Protokoll, dass er einen Regenbogen und zwei riesige Kreuze gesehen habe, gebildet aus Nebelwolken, als bei vier seiner Gefährten das Seil riss.

&bdquo;Gran Becca“ kann ein Klassiker werden Vieles geht einem so durch den Kopf angesichts dieser Abfahrt &bdquo;Gran Becca“, was übersetzt ja eigentlich nur &bdquo;Großer Gipfel“ bedeutet. Es ist im Ski-Weltcup wieder ein Stück Neuland, das man betritt, eine neue Schussfahrt und vielleicht sogar eine Abrundung und Ergänzung für die bisherigen Klassiker. Die Tatsache, dass 95 Prozent der Abfahrt normalerweise von Touristen bevölkert werden, dass keine Bäume gefällt werden mussten und dass aufgrund der großen Sturzräume keine Fangnetze notwendig sind und in der baumfreien Region damit auf die dafür notwendigen Eisenmasten verzichtetet werden konnte, die ansonsten wie hässliche Zahnstocher in den Himmel ragen, hat die Kritiker etwas besänftigt. Bleibt nur zu hoffen, dass auch die Berggeister diesem neuen Spektakel ihren Segen geben. Und dass sich der Wettergott von seiner gnädigen Seite zeigt. Und vor allem, dass alle pünktlich zum Start kommen.

Zum Autor: Sigi Heinrich Der vielfach ausgezeichnete Sportjournalist (u.a. Gewinner des Deutschen Fernsehpreises), Buchautor und Eurosport-Kommentator der ersten Stunde (seit 1989) widmet sich in seiner Kolumne &bdquo;Sigi´s Spitzen“ der gesamten Vielfalt des Sports. Aktuell und hintergründig, dabei mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, ernst oder auch bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

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