Giorgio Rocca: „Viele Südtiroler waren besser als ich“

Mit 11 Weltcupsiegen, 3 WM-Medaillen und einer kleinen Kristallkugel gehört Rocca zu den besten Slalomläufern der vergangenen 2 Jahrzehnte. Nun hat der 46-Jährige, der mittlerweile als TV-Kommentator und Trainer arbeitet, seine bewegendste Zeit auf und abseits der Piste in einem Buch festgehalten. Im Exklusiv-Gespräch mit uns berichtet er nicht nur von diesen Momenten, er blickt auch auf die aktuelle Situation im Slalomteam und verrät außerdem, auf welchen Skipisten er in Südtirol heute am liebsten unterwegs ist.

S+: Ihre Autobiografie trägt den übersetzten Titel &bdquo;Siege und Niederlage in den Kurven meines Lebens“. Welche Kurven waren denn die schwierigeren, jene im Stangenwald oder die abseits der Rennpiste? Giorgio Rocca: &bdquo;Beide, denn die Rückschläge auf der Piste wirkten sich auch auf mein Privatleben aus. In erster Linie waren das die bösen Verletzungen, die ich mir zugezogen habe. Niederlagen im Rennen kann man wegstecken, Verletzungen zehren dagegen über einem langen Zeitraum an einem. Mehrmals saß ich wochenlang zuhause am Sofa und musste mein Bein hochhalten, während die Konkurrenz im Fernsehen um Weltcupsiege kämpfte. Da drohen Kindheitsträume zu platzen.“

Ihre größte sportliche Niederlage erlebten Sie 2006 bei Olympia in Turin, als Sie als Hoffnungsträger einer ganzen Nation im Slalom zu Sturz kamen. &bdquo;Dieser Ausfall hat meine Karriere, ja mein ganzes Leben verändert. Ich hätte der große Held sein können, stattdessen war ich völlig am Boden. Im Nachhinein kann ich aber sagen: Durch den Sturz hat sich für mich vieles zum Besseren gewendet. Ich habe mir – für die Zeit völlig unüblich – einen Mentaltrainer zur Seite geholt, der mich wieder aufgebaut hat. Ich habe gelernt, Hindernisse zu bewältigen und nach Niederlage wieder aufzustehen. Das hilft mir auch in meinem heutigen Alltag noch ungemein. Jetzt kann ich getrost sagen, dass diese bittere Niederlage auf der Piste für mich und mein Leben ein Gewinn war.“

Giorgio Rocca lebt heute in zweiter Ehe mit Gaia Cansani in St. Moritz in der Schweiz.

In Ihrem Buch berichten Sie auch aus Ihrer Jugendzeit, als Sie als übergewichtiges Kind häufig belächelt wurden. Welchen Ratschlag geben Sie Jugendlichen, die mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben? &bdquo;Damals waren viele Nachwuchsfahrer in Italien, speziell jene aus Südtirol, deutlich besser und talentierter als ich. Meine Eltern haben sehr hart gearbeitet und mir jeden Cent zur Verfügung gestellt, damit ich meinen Traum von der Skikarriere verwirklichen kann. Auch deshalb habe ich mich enorm am Riemen gerissen, einen unglaublichen Willen entwickelt und mit viel Trainingseinsatz die technischen Mängel zu anderen wettgemacht. Ich kann nur jedem raten: Glaubt an euch und gebt immer ein Quäntchen mehr als die anderen!“ „Kein anderer hat so viel trainiert wie Manni Mölgg und ich“ Giorgio Rocca Sie stammen aus Livigno und auch Ihre Mutter ist unweit von Südtirol, im schweizerischen Scuol, geboren. Welchen Bezug haben Sie heute zu unserer Region? &bdquo;Mein Deutsch ist mittlerweile zwar sehr gebrochen, dafür spreche ich fließend Rätoromanisch. Also in Gröden und im Gadertal kann ich mich schon einigermaßen verständigen (lacht). Nein im Ernst, ich komme immer wieder gerne zum Skifahren nach Südtirol. Mit Freunden fahre ich mindestens ein Mal im Jahr die Sellaronda, das ist ein Fixtermin in unserem Kalender.“

Zurück auf die Piste: Welche Chancen räumen Sie den heimischen Slalomläufern im kommenden Winter ein? &bdquo;Alex Vinatzer ist sicherlich der mit dem größten Potenzial. Er wird diese Saison weitere wertvolle Erfahrung sammeln und sich wohl dauerhaft in der Weltspitze festsetzen. Der Sprung in die Top-15 ist ein großer Schritt, sich unter den absoluten Sieganwärtern zu etablieren aber nochmal ein viel größerer. Die Voraussetzungen sind bei ihm gegeben, er wird es packen. Dann haben wir da noch Manni Mölgg, den ich noch bestens aus meiner aktiven Zeit kenne. Wir zwei haben uns gegenseitig gepusht, kein anderer hat auch nur ansatzweise so viel trainiert wie wir. Grundsätzlich hat Italien ein sehr starkes, ausgeglichenes Slalomteam.“

Giorgio Rocca gewann 2006 die Slalom-Kristallkugel.

Allerdings hat auch der Skisport hierzulande mit einem Nachwuchsproblem zu kämpfen. Wie sehen Sie die Entwicklung? &bdquo;Da ich mittlerweile in St. Moritz lebe, habe ich einen passenden Vergleich zur Hand: In Italien wird auf Teufel komm raus trainiert, Nachwuchsathleten absolvieren schon jetzt mehr Fahrten als ich zu meiner aktiven Weltcupzeit. Häufig bleibt da die Freude und der Spaß auf der Strecke. Hier in der Schweiz verfolgt man ein anderes Konzept. An den Skischulen steht nicht nur der Sport im Vordergrund, sondern auch die Ausbildung. Training und Schule gehen Hand in Hand. Es wird vielmehr auf die menschliche Entwicklung geachtet, folglich springen auch weniger junge Sportler ab.“

Zum Abschluss eine Frage, die Sie vermutlich nicht mehr hören können: Wie sehr hat sie der jahrelange Vergleich mit Ski-Ikone Alberto Tomba genervt? &bdquo;Wie für viele Skifahrer weltweit war er auch mein ganz großes Idol. Allerdings habe ich rasch gemerkt, dass wir charakterlich unterschiedlicher kaum sein könnten: Tomba ist impulsiv, extrovertiert, ich war immer eher zurückhalten, ja fast schüchtern. Auch unser Fahrstil hat sich deutlich unterschieden. Als ich im Weltcup anfing, fand gerade der große Materialwechsel statt. Ähnlich ist es heute: Im Weltcup rauschen die Fahrer im Höllentempo um die Stangen, im Vergleich dazu fuhren wir damals in Zeitlupe.“

Giorgio Roccas 176 Seiten Dicke Autobiografie &bdquo;Vittorie e sconfitte tra le curve della mia vita“ ist am 8. Oktrober 2021 erschienen und kostet im Handel 19,90 Euro.

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