Gondeln tragen Trauer

Vor einiger Zeit, als wir noch Regen kannten, Wasser aus Gletschern in unsere Täler flossen und die Flüsse die Wiesen tränkten mit dem längst jetzt schon goldenen Nass, besuchten wir natürlich Venedig. Einmal im Leben muss man in der Lagunenstadt gewesen sein. Meine bevorzugte Zeit dafür war immer der November, wenn der Nebel durch die Gassen waberte und die Stimmung mystisch war. Morbide irgendwie. Verfall und Vergänglichkeit schienen ständige Wegbegleiter zu sein. Leicht konnte man sich verlaufen. Zum Glück hatte der Irrgarten seine Grenzen, denn irgendwie landete man letztlich immer am Canale Grande.

Doch schon damals traf wohl der Satz in einem wundervollen Film zu: &bdquo;Nichts ist so wie es scheint“. Damals trugen die Gondeln noch Trauer im britisch-italienischen Horrorfilm mit Donald Sutherland und Juli Christie. Damals bekamen wir auch noch Gänsehaut bei den schaurigen Szenen. Heutzutage ist das fast schon ein Kinderfilm. Auch die Grenzen der Furchtlosigkeit haben sich verschoben. Und die Gondeln, die tragen nicht mal mehr Trauer, sondern sind. Vor alle die Gondoliere, die nicht mehr singen und keine tollen Kurven mehr fahren mit ihren Touristen, wie einst Luigi, der freilich singen wollte wie Caruso und damit seine Gäste vergraulte. Noch vor dem Klimawandel. Venedig zu Karnevalszeiten: Der Wasserspiegel sinkt aber auch in fröhlichen Zeiten. © ANSA / Andrea Merola

Jetzt stecken die Gondeln fest im Schlamm der Lagune. Es platschen keine Wellen mehr an die Mauern der Palazzi. Es ist fast wie ein schleichender Tod. Wo sind wir? Wieder kommt mir der Kinoklassiker des britischen Regisseurs Nicolas Roeg aus dem Jahr 1973 in den Sinn. &bdquo;Aber nur ein kurzer Moment trennt die Vergangenheit von der Zukunft.“ Und weiter heißt es fast dramatisch: &bdquo;Dazwischen liegt die Gegenwart.“

Ein kompletter Umbau als Lösung Vielleicht sollte sich Jürgen Klopp diesen Streifen der Filmgeschichte zu Gemüte führen, obwohl das in seiner derzeitigen Situation vermutlich kontraproduktiv wäre, denn mit seinem FC Liverpool liegt er derzeit 21 Punkte hinter Tabellenführer FC Arsenal zurück. Die Trainerikone auf der Insel steht mit dem Rücken zur Wand, denn nichts, aber gar nichts funktioniert mehr so wie noch zu den Hochzeiten, als die &bdquo;Reds“ die Sterne vom Himmel holten. Auch die Gefühlslage in seinem Verein driftet gerade auf eine morbide Stimmungslage zu, was freilich perfekt zur Situation in seiner Wahlheimat passt, denn seit der Politclown Boris Johnson das Ruder abgegeben hat und Königin Elisabeth sich einen neuen Thron suchen musste, steckt ganz England irgendwie fest wie die Gondeln in Venedig. Der Brexit erweist sich als tückische und hinterhältige Fehlentscheidung. Jürgen Klopp trägt den FC Liverpool im Herzen – doch sportlich stecken die „Reds“ in der Krise. © APA/afp / GLYN KIRK

Aber was ist wirklich passiert in Liverpool? Jürgen Klopp beantwortet die Frage auf seine Art und Weise. Er hat angekündigt, für die nächste Saison den Kader brachial umzubauen. Neue Spieler, viele neue Spieler sollen kommen. Es ist ein bekannter Mechanismus. Klopp ist ein Motivationstrainer, einer der mit viel Charisma die Menschen auf seine Seite ziehen kann. Doch mit den Jahren und den immergleichen Mechanismen an ein fast unverändertes Team schleichen sich Gewohnheiten ein. Ohren auf Durchzug, Augen auf Masse. Schließlich kennen alle die Ansagen, die Strukturen. Gewohnheit tötet die Spannung. In diesen Fällen gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder der Trainer verlässt seine Mannschaft und sucht sich neue Herausforderungen oder er verändert das Team, denn für die Neuen ist dann auch Klopp neu. Die vielen Trainerwechsel indes machen klar, dass es vermutlich weitaus preiswerter und vermutlich auch einfacher ist, nur den Übungsleiter auszutauschen.

Das gute Beispiel SC Freiburg Wie immer gibt es natürlich auch gegenteilige Beispiele, die aber die These der laufenden Spielerwechsel unterstreichen. Christian Streich nämlich hat eine durchgängige Fluktuation in seinem Kader beim SC Freiburg. Jede neue Spielzeit ist immer auch ein Neuanfang für ihn und für den Verein. Er lebt und gestaltet die Gegenwart und füllt so perfekt den Raum zwischen Vergangenheit und Zukunft. Das ist im Grunde großes Kino und auch ganz große Kunst in dieser schnelllebigen Zeit, die keine Gnade kennt bei Erfolgslosigkeit. Jürgen Klopp ist das noch nicht gelungen und vielleicht ist das auch viel schwerer, als irgendeinen Titel zu gewinnen.

Auch beim FC Südtirol sollte man deshalb bei der absolut nachvollziehbaren Euphorie im Augenblick immer vor Augen haben, dass auch deren Trainer Pierpaolo Bisoli ein Motivationskünstler ist. Er hat dem Team die Furcht vor der Serie B genommen, eine ganze Region ins Boot geholt und alle mit seinem Feuer angesteckt. Nicht nur die Spieler. Gemeinsamkeiten mit Jürgen Klopp sind erkennbar. Noch kann, soll und darf die Gegenwart triumphieren. Doch die Zukunft kommt, ganz sicher und dann sollten alle gewappnet sein, denn wie heißt es so geheimnisvoll, als die Gondeln noch aktiv waren und wenigstens Trauer trugen: &bdquo;Sie wurden gewarnt. Nichts ist so wie es scheint.“

Der Autor: Sigi Heinrich Der vielfach ausgezeichnete Sportjournalist und TV-Kommentator (u.a. Deutscher Fernsehpreis, Bayerischer Sportpreis, Biathlon-Award, World-Sports-Trophy) widmet sich seiner Kolumne &bdquo;Sigi´s Spitzen“ der gesamten Vielfalt des Sports und wildert mitunter auch mit Begeisterung in fremden Gefilden. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal ernst oder auch bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein. Heinrich war nach seinem Sportstudium an der TU München zehn Jahre Redakteur der Süddeutschen Zeitung und gehört seit seinem Wechsel zu Eurosport vor 34 Jahren zum festen Stamm der Kommentatoren des Sportsenders.

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