Der tiefe Fall des deutschen Sports

WIR sind nicht mehr das, was WIR mal waren. Papst sogar, wie seinerzeit die große deutsche Boulevardzeitung &bdquo;Bild“ titelte: &bdquo;Wir sind Papst“. Es war, auch wenn ich mich dazu überwinden muss, dies zuzugestehen, eine geniale Schlagzeile, die gewissermaßen ein sprachlicher Selbstläufer geworden, obwohl es lange her ist. Im April 2005 wurde Joseph Alois Ratzinger zum Papst gewählt. Der dritte Pontifex Maximus, der aus Bayern kam. Das Personalpronomen &bdquo;WIR“ steht mittlerweile am Anfang vieler Fragen. Was sind WIR jetzt also noch? Gut, Basketball-Weltmeister. Zum ersten Mal überhaupt. Eine verschworene Truppe besiegte in Manila Serbien, zuvor die Korbüberflieger aus den USA und überhaupt jede andere Mannschaft während des Turnieres. Die überschäumende Freude des Teams wurde in jeder Berichterstattung deutlich. Nur: Eine tiefergreifende Analyse, die aufzeigen hätte können, wie es zu diesem sensationellen Erfolg kommen konnte, blieb aus. Zu überrascht war man auch in Deutschland über diesen Sieg, denn das Spiel unter dem Korb steckt, so ehrlich muss man sein, nicht unbedingt in unseren Genen. Es wurde ja auch in Kanada kreiert. Handball ist da eher unser Ding. Schließlich sollen WIR ja dieses Spiel seinerzeit erfunden haben, was geschichtlich nicht ganz stimmt, auch wenn der Berliner Oberturnwart Max Heiser 1917 die Grundzüge des noch bestehenden Regelwerks festlegte. Natürlich waren WIR dann auch mal Weltmeister. Zwei Jahre nach der Papstwahl. Seitdem Fehlanzeige auf dem Podest des Welthandballs. WIR waren da also auch schon mal besser. Ebenso im Rudern. Der &bdquo;Deutschland-Achter“ ist ein fester Begriff, ja sogar der Inbegriff einer schier unschlagbaren Truppe von acht stählernen Jungs, die ihr Ruderblatt derart kraftvoll in das Wasser trieben, dass die Konkurrenz immer nur staunen konnte. Das Flaggschiff des Deutschen Ruder-Verbandes (DRV) sicherte regelmäßig Medaillen bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen. Jetzt sind WIR froh und glücklich, dass es bei den letzten Titelkämpfen in Belgrad nicht unterging. Über den Hoffnungslauf durfte man doch noch im Finale mitmachen. Der fünfte Platz- chancenlos im Kampf um die Medaillen – bescherte immerhin die Teilnahme bei den Olympischen Spielen nächstes Jahr in Paris. Darüber jubelt man jetzt. Der &bdquo;Deutschland-Achter“, war früher ein Synonym für die deutsche Gründlichkeit und erfolgsorientierte Arbeit. Jetzt ist er eher ein Beispiel für den schleichenden Untergang. WIR müssen jetzt schon froh sein, dass er noch mitmachen darf. Die Leichtathleten haben zuletzt bei ihrer Weltmeisterschaft ebenfalls ein Desaster erlebt und zum ersten Mal in der Geschichte keine Medaille gewonnen. Der Sport als Spiegelbild der Gesellschaft Es ist passend für unsere komplette Situation in Deutschland. WIR erleben nämlich keinen Stillstand, sondern eben in vielen Bereichen einen Rückschritt. Bei der Internationalen Automobilausstellung in München standen Produkte aus China im Mittelpunkt. Deutsche Autobauer hecheln hinterher und waren früher doch diejenigen, die den Rhythmus vorgaben. Vorbei. WIR stehen vor einem Heizungschaos, einem Wohnbau, der nur noch Ruinen produziert, vor maroden Autobahnbrücken und einer in allen Beziehungen veralteten Eisenbahn, bei der man sich als Fahrgast schon freut, wenn der Zug wenigstens ankommt. Von Pünktlichkeit mag längst niemand mehr sprechen. WIR schauen gebannt auf unsere Ampel, auf die vielen Farben, die dauernd blinken, ohne dass ein System erkennbar ist. WIR sind verunsichert, auch sauer, weil sich die Preisspirale immer weiterdreht, während unsere gewählten Volksvertreter ständig an ihre eigene Wählerklientel denken, je nach Farbe. Immerhin sind WIR dabei erfindungsreich. WIR schaffen Sondervermögen, die nichts anderes sind als weitere Schulden auf dem Rücken der Steuerzahler. Aber die Wortschöpfung für die vorgegebene Werteschöpfung ist zugegebenermaßen sensationell. Aber WIR waren diesbezüglich schon immer gut, ja genial. Siehe Goethe, Schiller oder Lessing und all die anderen Dichterfürsten und Schriftsteller. Die Reißleine deutete sich an Und jetzt bricht noch ein Grundpfeiler unserer Hoffnungen weg. Fußball. Darauf konnten WIR uns doch früher immer verlassen. Auf unsere Nationalmannschaft. Vorbei auch hier. In den Interviews nach der krachenden jüngsten Niederlage gegen Japan (1:4 zuhause in Wolfsburg) gaben Spieler wie auch der damals gerade noch amtierende Bundestrainer Hansi Flick zu verstehen, dass WIR da nicht mehr mithalten könnten. Die Japaner seien besser ausgebildet. Sie seien UNS überlegen. In jeder Beziehung. WIR sind nichts mehr. Der Nachwuchs scheiterte in diesem Jahr in der Vorrunde, die kickenden Frauen auch, die Nationalmannschaft ist nicht mal mehr ein Schatten früherer Jahre. Sie ist als Mannschaft ein Trauerspiel. Natürlich zog man jetzt in der DFB-Zentrale die Reißleine, wie immer am schwächsten Punkt, wo es nur ein kleines Ruckeln braucht und die Verbindung ist Geschichte. Trainer Hansi Flick wurde also jetzt entlassen, dabei müsste man die gesamte Mannschaft auswechseln. Alle diese selbstverliebten Kicker, die ständig behaupten, sie würden für ihren Coach spielen und sich für ihn und Deutschland zerreißen. Sie haben Hansi im Stich gelassen und uns alle auch, wobei der nette Hansi sicher auch einige grundlegende Fehler gemacht hat, in dem er zu viel experimentierte und keine klare Struktur entwickelte mit dem Team. Wie auch immer: Seine Entlassung folgte den Gesetzmäßigkeiten seiner Branche. Dass er auch stets noch betonte, er wolle so wie bisher gerne weiter machen, mag auch nicht gerade geholfen haben. Wo aber sind WIR jetzt? Irgendwie und grundsätzlich augenscheinlich auf verlorenem Posten in viel zu vielen Bereichen. Der Sport ist nur einer davon. Ausgenommen natürlich die Basketballer. Zum Autor: Sigi Heinrich Der vielfach ausgezeichnete Sportjournalist, Buchautor und Eurosport-Kommentator widmet sich in seiner Kolumne &bdquo;Sigi´ Spitzen“ der gesamten Vielfalt des Sports und wildert gerne auch mal in fremden Gefilden. Dabei mit schmunzelndem Augenzwinkern oder nachdenklich ernst und mitunter auch bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

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