Die Geistesblitze von Nagelsmann

Endlich daheim. Nach zwei Spielen im fernen Amerika durfte der neue und bis zur Europameisterschaft wohl verantwortliche Bundestrainer der deutschen Fußball-Nationalmannschaft endlich vor eigenem Publikum aufschlagen. Und das auch noch in der Hauptstadt Berlin. Doch dann, herrje, verfuhr sich der Fahrer des Mannschafsbusses. Er landete am Bosporus, in Istanbul, in der Türkei. So zumindest dachten wohl auch die deutschen Kicker, als sie den Rasen des Olympiastadions betraten und dabei vermutlich ihren Augen nicht trauten. Ausschließlich weiß-rote Fahnen sahen sie und ohrenbetäubend war der Jubel. Für den Gegner wohlgemerkt, für die Türkei. Dazu muss man wissen, dass unter Einbeziehung von deutschen Staatsbürgern mit türkischem Migrationshintergrund (sogenannte Deutsch-Türken) etwa 200.000 türkisch-stämmige Personen in Berlin leben.

Die Fans der deutschen Nationalmannschaft – angeblich waren auch ein paar im Stadion – hielten sich verschämt zurück. Sie schwenkten keine Fahnen, blieben still und ergaben sich ihrem Schicksal, zuhause nur noch eine Minderheit zu sein. Es war beinahe so, wie ansatzweise manchmal auch im richtigen Leben. Dazu kam dann auch noch die Tatsache, dass kaum heftig viel Grund vorhanden war, zu jubeln oder sich wenigstens ein wenig zu freuen, denn der Gastgeber, also Deutschland, um das noch einmal deutlich zu machen, verfiel bei seinem ersten sogenannten Heimspiel unter Julian Nagelsmann wieder erschreckend stupide in alte Muster zurück, die man hoffte und glaubte, hinter sich gelassen zu haben in den Spielen gegen die USA und Mexiko.

Rückschritt statt Fortschritt. Experimente statt Stabilisierung. Klar ist es leicht, nach einem in vielerlei Hinsicht ungewöhnlichen Spiel schon vor dem Nikolaustag die Rute auszupacken. Allerdings darf nicht unerwähnt bleiben, dass die türkische Nationalmannschaft, die heimliche Heimmannschaft gewissermaßen, auch noch stark ersatzgeschwächt antrat. Gegen die DFB-Auswahl, bei der vielleicht nur Musiala als vermeintlicher Stammspieler fehlte, genügte das, um mit 3:2 zu gewinnen. Die Torhüterdiskussion lasse ich hier außen vor, denn diese ist obsolet, weil alle, die zur Verfügung stehen, mit gutem Gewissen aufgeboten werden können. Irgendwann vermutlich auch noch Manuel Neuer.

Experimente statt Stabilität Vielmehr muss man sich Sorgen machen um den Coach, der vermutlich jetzt meint, er müsse in der kurzen Zeit, die ihm bleibt bis zur Europameisterschaft, (Anpfiff ist am 14. Juni 2024) dem Team einen besonders nachhaltigen neuen Stempel aufdrücken. Ein Nagelsmann-Gen will er in Höchstgeschwindigkeit einpflanzen, weshalb wir uns nicht wundern sollten, wenn beim nächsten Spiel Antonio Rüdiger als Mittelstürmer auftaucht und Niclas Füllkrug die Abwehr organisiert. Schließlich hat Arsenalstürmer Kai Havertz (wechselte für 80 Millionen von Chelsea) gegen die Türkei als Linksverteidiger reüssiert. Weltklasse hat ihm Nagelsmann attestiert, weil er nämlich sogar ein Tor geschossen hat. Als wäre er der erste Linksverteidiger der Welt gewesen, dem dies gelang. Alleine die Beurteilung von Nagelsmann macht deutlich, dass dem neuen DFB-Cheftrainer letztlich wohl doch nicht wohl in seiner Haut war. Anstatt das bei den bisherigen zwei Spielen unter seiner noch immer kurzen und wackeligen Amtszeit fragile Gerüst zu stärken, hat er wieder neue Baustellen eröffnet. Mehrere Fragen drängen sich zweifellos auf. Warum verzichtete er auf Pascal Groß, der so großartig (sorry) mit Ilkay Gündogan in den Partien in Übersee harmonierte.

Muss nach dem Türkei-Spiel Kritik einstecken: Julian Nagelsmann. © APA/afp / RONNY HARTMANN

Der Kapitän der deutschen Mannschaft, der in Berlin wirklich gnadenlos ausgepfiffen wurde, weil er mit türkischem Hintergrund für den Gegner spielt, was auch viel über die Toleranzschwelle der vielen Deutsch-Türken aussagt, konnte mit Groß als Partner im Mittelfeld frei und unbeschwert aufspielen. Er war Spielmacher. Das will auch Joshua Kimmich immer sein. Der Münchner will Akzente setzen und nicht Ausputzer für Gündogan spielen, damit dieser glänzen kann. Der Bundestrainer indes hat Kimmich augenscheinlich einen Freibrief auf der Sechserposition gegeben. Dabei wäre ein perfekter Platz für ihn frei. Nagelsmann sucht immer noch einen Verteidiger auf der rechten Seite. Es ist die Position, die Kimmich groß gemacht hat, die freilich mehr reagieren als agieren beinhaltet. Aber das wäre jetzt für Kimmich wohl unter seiner Ehre.

Beckenbauer und sein Helfer Erinnern wir uns an dieser Stelle an große Fußballpaare. Franz Beckenbauer wäre nie der wunderbare, leichtfüßige, elegante, ja die Gesetze des Fußballs schier außer Kraft setzende Libero geworden, ohne seinen Ausputzer &bdquo;Katsche Schwarzenbeck“, der ihm stets den größten Ärger (böse Stürmer) vom Leib hielt. Und Günther Netzer konnte sich blind auf seinen Dauerläufer &bdquo;Hacki“ Wimmer verlassen. So konnte der Mann mit den großen Füßen unbeirrt im Mittelfeld agieren, ohne sich um störende, defensive Aufgaben kümmern zu müssen. Auch Pascal Groß könnte für Gündogan eine solche Rolle spielen, die auch deshalb zu ihm passt, weil er nie in der First-Class der kickenden Elite aufgetaucht ist. Groß spielt zudem auch in England (Brighton), ist ein Spätberufener im Nationalteam mit 32 Jahren und fern aller Verdächtigungen, ein Selbstdarsteller werden zu wollen.

Er ist ein Mannschaftsspieler und genau solche Typen, die oft unterschätzt werden, wären auch jetzt in einer Phase der nach wie vor erkennbaren Verunsicherung extrem wertvoll. Es herrscht also schon wieder ein wenig dicke Luft im DFB-Dunstkreis, wenngleich zumindest stimmungsmäßig diesmal alles in Ordnung sein sollte. Das Länderspiel am 21. November findet im Ernst-Happel-Stadion in Wien statt. Aus zweierlei Gründen ist dabei unser Blutdruck erneut etwas erhöht. Zum einen sind die Österreicher längst mehr als nur ein Sparringspartner. Viele Nationalspieler kicken in der Bundesliga. Und außerdem sind wir gespannt auf die Aufstellung der DFB-Auswahl. Wir fürchten nämlich einen neuerlichen Geistesblitz von Nagelsmann….

Zum Autor: Sigi Heinrich Der vielfach ausgezeichnete Sportjournalist (u.a. Gewinner des Deutschen Fernsehpreises), Buchautor und Eurosport-Kommentator der ersten Stunde (seit 1989) widmet sich in seiner Kolumne &bdquo;Sigi´s Spitzen“ der gesamtenVielfalt des Sports und wildert darüber hinaus auch gerne in fremden Gefilden. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal ernst oder auch bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

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