Kolumne | Der schwere Weg zum fünften Stern

Ich müsste mich eigentlich nicht extra vorstellen, aber ich tue es in diesem Fall trotzdem. Sicher ist sicher. Ich bin die Nationalmannschaft. Eure Nationalmannschaft. Die Auswahl der besten Fußballspieler, die für Deutschland spielen dürfen. Grundsätzlich will ich Euch stolz machen. Ja mehr noch. Ihr sollt glücklich sein, wenn ich meine Auftritte habe. So viele sind das leider nicht, weil mir ständig die Ligen in vielen Ländern in die Quere kommen. Es ist ja nicht nur die Bundesliga. Meine Auserwählten sind über ganz Europa verteilt. Italien, Spanien. Das macht es manchmal für meinen Chef Julian Nagelsmann, ein Jungspund noch, was noch immer für mich sehr gewöhnungsbedürftig ist, nicht einfach. Er soll, er muss immer alle beobachten, einordnen und nach seinen Ideen perfekt einsetzen, damit ich zu Eurer Zufriedenheit agieren kann. Ich gebe zu: Ich bin sensibel und natürlich merke ich, dass ihr in letzter Zeit ein wenig an mir herummäkelt. Ich kann es gerade nicht allen recht machen, vor allem nicht all den selbsternannten Kritikern, die früher sogar mal mein Trikot bekommen haben. Jetzt spielen sie sich auf, als hätten sie die Fußballweisheit mit dem Löffel gefressen.

Dabei – und da muss ich innerlich schon lachen – haben sie auch ziemlich viel Mist fabriziert früher. Und als sie nach ihrer aktiven Zeit bei mir selbst mal Mannschaften trainierten, sogar Kollegen von mir, war das nie von Erfolg gekrönt. Aber über deren Vergangenheit hat sich im Lauf der Jahre ein Weichzeichner gelegt. Zum Glück für sie. Egal. Darüber komme ich hinweg und auch über die komischen Schlagzeilen in der aktuellen Presse. Ich studiere natürlich die Zeitungen und Magazine. Als Nationalmannschaft muss ich informiert sein, wie man so über mich denkt im Moment. Da lese ich, dass ich auf einem guten Weg bin Richtung Weltmeisterschaft. Das freut mich natürlich, weil ich in diesem Moment glaube, dass ich vieles richtig gemacht haben. Doch im Zusatz taucht dann der Satz auf, dass ich noch nicht in WM-Form bin.

Was ist die WM-Form? Ich weiß freilich nicht so ganz genau, was dabei gemeint ist. Vielleicht hat man von mir ein Torfestival gegen Luxemburg erwartet. Sind vier Treffer noch immer nicht genug? Denkt ihr wirklich, dass die Jungs auf der Gegenseite lauter Milchbubis waren? Und spielerisch, hieß es, hätte ich gegen Nordirland nicht überzeugt. Nur Standardsituationen und so. Als wenn das nicht wichtig wäre. Aber habt ihr auch gemerkt, dass dieses Spiel wie ein Boxkampf ablief. Dauernder &bdquo;Infight“. Einstecken, austeilen. Da ist es nun mal schwer, kluge, schöne und erfolgreiche Kombinationen zu gestalten. Aber ich weiß natürlich auch, dass ihr von mir fast immer eine überirdische Leistung erwartet. Dabei denkt ihr, und ich kann das nachvollziehen, wohl immer auch an den 8. Juli 2014, als ich die Brasilianer in ihre Einzelteile zerlegt habe mit dem 7:1. Davon haben die sich bis heute nicht erholt, aber auch ich habe danach schwierige Zeiten mitgemacht. Mein &bdquo;Jogi“ wollte partout nicht aufhören, obwohl ich schon gemerkt habe, dass nach der WM in Brasilien das Feuer nur noch auf Sparflamme brannte. Dann kam der &bdquo;Hansi“. Das war dann leider auch bloß Flickschusterei letztlich.

Nick Woltemade ist Deutschlands Sturmhoffnung. © APA/afp / PAUL FAITH

Aber es ist auch verdammt schwierig mit mir. Ich kann mich zum Beispiel nicht täglich zur Verfügung stellen, um zu üben. Oft bleiben mir nur wenige Tage, in denen ich dann irgendwie so ein Teamgefühl aufbauen soll, obwohl sich die Jungs vorher vielleicht im Alltag ziemlich gefetzt haben. Ich stehe dann also meist schon mit dem Rücken zur Wand und über meine Befindlichkeit zerbricht sich ein ganzes Land den Kopf. Das geht, ehrlich gesagt, auch nicht so spurlos an mir vorüber. Außerdem werde ich auch ständig mit neuem Personal konfrontiert. Dabei ist die Trauerphase nach dem Abschied von Thomas Müller oder Manuel Neuer noch gar nicht vorüber. So leicht ist das dann eben nicht. Amiri und Adeyemi und Woltemade und Pavlovic und Atubolu und Beier und so weiter. Mein neuer Chef wildert ordentlich in der Liga. Der Leidtragende bin dann, wenn es wider Erwarten nicht wie am Schnürchen läuft, natürlich ich. Manchmal, wenn ich gerade ein wenig schwermütig bin, denke ich natürlich an die guten alten Zeiten, als ich einem Kaiser zu Diensten sein durfte. Aber ich merke natürlich auch, dass sich die Fußballwelt verändert hat. Mein Franz konnte noch mit dem Ball am Fuß ein paar Schritte machen. Der Gegner hat mit Respekt zugeschaut. Oder Overath? Der konnte in Ruhe schauen wie ein Bergsteiger runter ins Tal, wohin er die Kugel spielen will. Niemand hat ihn gestört.

Das waren wirklich noch gemütliche Tage für mich. Jetzt muss ich mich umstellen, denn mit der Ruhe ist es vorbei. Ich habe manchmal sogar das Gefühl, dass bis auf den Torhüter alle einen persönlichen Gegenspieler haben, der meine Buben schon bei der Ballannahme stört. &bdquo;Pressing“, nennen das die Fachleute und neuerdings spielen sie nicht mehr mit dem Ball, sondern gegen den Ball. Das muss ich auch erst mal verstehen. Auch die vielen Aus-respektive Einwechslungen bringen mich manchmal durcheinander. Ich habe es früher, ehrlich gesagt, geliebt, dass ich oft schon Wochen vor einem Spiel gewusst habe, wer mir ans Herz gelegt wird. Das hatte was. Aber ich will nicht dauernd klagen. Das machen ja schon andere die ganze Zeit. Ich kann nur versprechen, dass ich an mir arbeiten werde, um zum gegebenen Anlass, also der WM im nächsten Jahr (natürlich qualifiziere ich mich), in bestmöglicher Form antreten zu können, wobei ich mir zum Schluss noch den Hinweis gestatten möchte, dass vieles in meinem Arbeitsbereich eben auch vom Gegner abhängt. Und ich gebe freimütig zu, dass auch ich mal einen Durchhänger haben kann wie wir alle. Wenn dann freilich das Ergebnis trotzdem in Ordnung ist, dann wird wenigstens aus einem schlechten Spiel noch ein gutes. Und alle sind glücklich. Endlich

Zum Autor: Sigi Heinrich Der vielfach prämierte Sportjournalist (u.a. Gewinner des Deutschen Fernsehpreises, des Bayerischen Sportpreises und nominiert für den renommierten &bdquo;Grimme-Preis), Sportlehrer, Buchautor, langjähriger Sportredakteur der Süddeutschen Zeitung und seit 1989 Kommentator bei Eurosport, widmet sich in seiner wöchentlichen Kolumne der gesamten Bandbreite des Sports und wildert gerne auch in fremden Gefilden. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal nachdenklich oder bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

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Unser Kolumnist Sigi Heinrich hat sich mit einem offenen Brief der deutschen Nationalmannschaft auf ungewöhnliche Weise genähert und deren Sorgen und Nöte offengelegt. Vor allem die vielen Kritiker, die früher bei ihr spielten, ärgern sie.

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