Sigi's Spitzen | Verbale Keilerei in der Kabine

Wollten wir das immer schon wissen? Wie geht es eigentlich in so einer Kabine mit elf oder mehr Kickern zu? Einem Raum, in dem sich in erster Linie Individuen treffen, um dann irgendwie gemeinsam als Mannschaft an die Öffentlichkeit zu treten. Hinaus in die Hölle, in der die Fans gierig auf das große Spektakel warten. Werden die zunächst aufgebotenen Akteure die eigenen Interessen zurückstellen und sich den taktischen Vorgaben des Trainers beugen? Werden sie, die eigentlich in erster Linie ihre eigenen Interessen verfolgen, sich kleiner machen als sie sich fühlen, um das große Ganze in den Vordergrund zu rücken? Und welcher Sprache bedient sich der Trainer, der ja alles sein muss: Psychologe, Ratgeber, Motivator und natürlich, in erster Linie wohl, Taktgeber des gesamten Ensembles? Wird es laut oder zwischendurch auch mal leise, was im Grunde eindringlicher sein kann als stetes Gebrüll?

Jetzt bekommen wir einen Einblick in die Gefühlslage aller Beteiligten durch eine Dokumentation, die ein Fernsehteam drehen durfte bei und mit der deutschen Fußballnationalmannschaft während der letzten Weltmeisterschaft in Katar. Ja, während der Spiele, respektive vor und nach den Begegnungen. Ausschnitte davon kann man bereits sehen und sie sind ernüchternd. Wenn das so weitergeht wie in den ersten öffentlich gemachten Sequenzen, dann wird uns, den Betrachtern, auch ziemlich schnell klar, wie tief dieses deutsche Team gesunken ist oder vielmehr diese Ansammlung von Spielern, von denen augenscheinlich jeder an seine persönliche Überlegenheit gegenüber den anderen glaubt. Die Objektive und Mikrophone halten den Zerfall eines mannschaftlichen Gefüges fest. Das Ende ist bekannt: Deutschland scheidet in der Vorrunde aus.

Die Vorahnung von Hansi Flick Der Bundestrainer, das ist in dem Film natürlich auch dokumentiert, sah das voraus. In einer Wutrede sagte er: &bdquo;Wenn wir so weitermachen, fahren wir nach Hause.“ Schon die ersten Minuten desillusionieren. So also geht es zu in einer Kabine oder in irgendeinem anderen Raum bei einer Mannschaftsbesprechung. Müssen, wollen wir das wissen? Ist uns jetzt wohler, weil die Bilder und Sätze, die schon bekannt sind, deutlich machen, dass dieses Team auch mental wohl nicht auf dieses Großereignis vorbereitet war? Schuldzuweisungen untereinander decken auf, wie fragil dieses DFB-Gefüge wohl immer war. Jetzt können wir uns daran ergötzen, wenn wir wollen und uns vorführen lassen, im wahrsten Sinne des Wortes, wie es letztlich auch, abseits von den Ergebnissen, dazu kam, dass der deutsche Fußball jetzt in der größten Krise seines Bestehens steckt. Freuen wir uns, dass wir jetzt wirklich mittendrin sind? Wird damit unser Hang zum Voyeurismus befriedigt? Wollen wir die Demontage unserer Helden so hautnah miterleben?

Hansi Flick spielt im Film eine wichtige Rolle. © ANSA / FRIEDEMANN VOGEL

Augenscheinlich hat der Deutsche Fußball-Bund (DFB) die Erlaubnis gegeben, fast hautnah den letztlich dornenreichen Weg der Mannschaft zu verfolgen. Vermutlich hatte freilich niemand mit dem frühen Ausscheiden gerechnet, sondern im Geheimen wohl gehofft, dass die Schlussbilder mit dem Pokal des Weltmeisters eingefangen werden könnten. Ob das Team mit ihren Kameras und Mikrophonen, das ja schier allgegenwärtig sein musste, auch ein Störfaktor war, obliegt dem Befinden der Akteure. Angenehm stelle ich es mir nicht vor, wenn ständig ein Objektiv vor meiner Nase hängen würde und mich in prekären Situationen filmt. Andererseits scheint das in dieser von Social-Media-Aktionen geprägten Zeit schon Alltag zu sein. Instagram und Facebook und was es sonst noch gibt, sind lebensbegleitend geworden. Das hat nicht nur Vorteile. Es kann auch ablenken vom eigentlichen Ziel.

Selfies während des Wettkampfes Der deutsche Zehnkämpfer Niklas Kaul, jüngster Weltmeister 2019 und Europameister, hat jüngst bei den Weltmeisterschaften in Budapest Selfies von sich gepostet, wie das wohl so heißt. Während des laufenden Wettkampfes wohlgemerkt. Das stieß bei vielen seiner ehemaligen Kollegen auf Unverständnis, weil die intime Berichterstattung, so der Tenor, die Konzentration stören könnte. Kaul beendete den Wettkampf wegen Fußproblemen nicht. Viel hat er dann darüber auch nicht an die Öffentlichkeit weitergegeben. Es scheint dennoch so zu sein, als lechze die Fangemeinde geradezu nach Informationen aus dem Kreis der Insider.

Als Redakteur der Süddeutschen Zeitung durfte ich früher mit dem Bus des FC Bayern vom Flughafen zum Stadion fahren oder auch direkt von München aus zum jeweiligen Spielort. Es gab seinerzeit eine klare Anweisung: Alles was im Bus gesprochen wird, bleibt im Bus. Ich saß neben Sören Lerby oder Jean-Marie Pfaff. Das Schweigegelübde war Pflicht. Jetzt will man immer mehr. Vermutlich wird es nicht mehr lange dauern bis eine Kamera im Bus hängt, die jede Gefühlsregung auffängt. In vielen Sportarten ist es längst schon gängige Praxis, dass in den Spielpausen Mikrophone in die Spielertraube gehängt werden. Die Traineransprachen werden öffentlich oder auch so mancher Disput wie neulich bei der Basketballweltmeisterschaft, als der deutsche Spielmacher Denise Schröder sich ein hitziges Wortduell mit seinem Mitspieler Daniel Theis lieferte. Bundestrainer Gordon Herbert beorderte ihn dann lautstark und für alle Welt sicht- und hörbar kurz mal auf die Bank. Es war ein Kampf um die Deutungshoheit, das war klar. Und wir waren dabei. Natürlich. Immerhin gewann dann das Team deutlich gegen Slowenien. Übrigens dank eines nach seinem Ausraster überragenden Denis Schröder. Irritierend empfand ich die Szene dennoch. Sie machte indes auch noch einmal sehr deutlich, dass sich die Sportwelt längst in eine öffentliche Inszenierung begeben hat, die weit über die Berichterstattung des eigentlichen Wettkampfes hinausgeht. Vorberichte und möglichst detaillierte Hintergründe nach dem Spiel rücken in den Focus. Wie weit dies gehen soll, müssen die Beteiligten mit sich ausmachen. Im Fall der deutschen Kicker in Katar hat man nach meinem Empfinden eine Grenze überschritten.

Der Autor: Sigi Heinrich Der vielfach ausgezeichnete Sportjournalist, Buchautor und Eurosport-Kommentator widmet sich in seiner Kolumne &bdquo;Sigi´s Spitzen“ der gesamten Vielfalt des Sports. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal ernst oder auch bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

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