Kolumne: Ein bär(t)iger Müller

Bis jetzt war da nicht nichts. Aber auch nicht besonders viel, vor allem in Sachen Fußball. Vancouver. Man denkt an Eishockey. Irgendwie logisch. Die Vancouver Canucks sind als Franchise der National Hockey League (NHL) am Start. Die Olympischen Winterspiele 2010 fanden in dieser Region statt. Und ja, es ist wunderschön. Ich war dort vor 15 Jahren. Und erst Vancouver Island! Ein Traum. Mildes Klima, tolle Kunstszene. Wäre es nicht so weit weg und vor allem nicht so teuer: Ich könnte mir ein Leben dort vorstellen. Leider ist wie in vielen größeren Städten auch in Vancouver nicht alles Gold was glänzt. Himmel und Hölle sind nur ein paar Straßen voneinander entfernt. Thomas Müller, der Fußballspieler des FC Bayern München – so bezeichne ich ihn schlicht, denn was anderes kommt nicht in Betracht, ist jetzt dorthin gezogen und posiert gerne vor den Wolkenkratzern an der Westside, wo es auch Wohnungen mit Weitblick gibt. Müller ist jetzt nämlich auch Botschafter irgendwie für die Kanadier und Entwicklungshelfer in Sachen Kicken sowieso.

Ich weiß nicht, ob er schon mal an der Eastside war. (Er sollte es, mit Begleitung, mal tun). Dort sind die Unterkünfte nicht so lukrativ. Es gibt Schlafsäcke oder auch nichts für die zahlreichen Obdachlosen. Drogentote gehören zum Alltag. Von jenen, die dort unter menschenunwürdigen Bedingungen leben, hat noch niemand von Müller gehört. Vielleicht mal sein Bild in der Zeitung gesehen, mit der er sich vor der Kälte der Nacht schützte. Fußball ist nichts für arme Schlucker.

Botschafter und Entwicklungshelfer Immerhin hat es Thomas Müller geschafft, dass auch wir in Europa plötzlich intensiver als bisher Anteil nehmen am kanadischen Fußball, der ja durchaus eine Geschichte vorzuweisen hat. Die Kanadier waren sogar mal Olympiasieger im Fußball. 1904 in St. Louis. Dann gibt es noch zwei WM-Teilnahmen. Über die jeweiligen Gruppenphasen kam man nie hinaus. Und nun sind sie im nächsten Jahr sicher dabei als sogenannter Co-Ausrichter, zusammen mit den USA und Mexiko.

Thomas Müller spielt seit diesem Sommer in Übersee. © APA / SAM HODDE

Müller hat einen perfekten Zeitpunkt für seinen Ritt nach Kanada gewählt und ein wenig konnte er sich ja auch vorbereiten. Alphonso Davis, einer der besten Linksverteidiger in der Bundesliga, ist Kanadier. Wir wissen, Thomas hat seine Frau Lisa nicht mitgenommen in die Fremde. 8200 Kilometer werden zunächst mal per Fernbeziehung überwunden. Das geht, auch wenn es sich schrecklich anhört. Und er hat sich Bildchen geben lassen von seinen Mitspielern, damit er immer auch gleich weiß, wer da mit ihm kickt. Im Training und vor allem im Spiel. Und Müller ist wieder da, wo er lange beim FC Bayern war, vor allem etwa unter Louis von Gaal, der den legendären Spruch prägte: &bdquo;Müller spielt immer.“ Bei seinen Bayern saß er zuletzt mehr auf der Bank und war Ergänzungsspieler. Reserve also. Altenteil. Jetzt ist die Welt für ihn wieder in Ordnung. Müller spielt immer und ich denke da auch an den anderen Müller, der einst auszog in die neue Welt. Noch viel konsequenter als Thomas veränderte Gerd Müller sein Leben. Er eröffnete ein Steak-House in Fort Lauderdale (Florida) und wurde dort nie glücklich.

30 Prozent mehr Zuschauer Thomas macht das sichtlich besser. Seit er in Vancouver dabei ist haben sich die Zuschauerzahlen deutlich verbessert. Im Schnitt sehen jetzt 26.000 Fans die Spiele der &bdquo;Whitecaps“. 30 Prozent mehr als vor der Müller-Zeit. Und der gebürtige Weilheimer (eine kleine Stadt im Süden Münchens) liefert. Tore vor allem. Acht in acht Spielen. Er gewann mit seinem neuen Team die Canadian Championship. Es war sein 35. Titel. Damit überholte er zum Beispiel Toni Kross, der es auf 34. Titel brachte. Und Thomas Müller ist noch nicht fertig. Zum Auftakt der Play-Offs in der Major Soccer League (MSL) steuerte er einen Elfmeter bei beim 3:0 Sieg gegen den FC Dallas. Er bekam Besuch vom Bayerischen Rundfunk. Amazon widmete ihm eine eigene Dokumentation vor der Abreise (&bdquo;Thomas Müller- Einer wie Keiner“) und Deutschlands Zeitung mit den vier großen Buchstaben sendet &bdquo;Radio Müller.“ Locker rauscht er an aktuellen Geschehnissen der Bundesliga vorbei und überholt sie. Die Distanz schrumpft und ist kaum erkennbar. Thomas Müller ist eine Marke geworden. Der sportliche Wert seiner Auftritte in Kanada spielt dabei keine Rolle. Viel wichtiger schein sein neues Image zu sein. Durchaus kalkuliert. Er ließ sich einen &bdquo;Holzfällerbart“ wachsen. Und damit auch alles seine Ordnung hat, ließ er sich von Kollegen einen Barbier empfehlen, der den Wuchs überwacht und gelegentlich korrigierend eingreift. Im nächsten Jahr bei der Weltmeisterschaft ist er auch wieder dabei: Als Experte bei einem TV-Sender. Das Motto ist klar: Alles Müller oder was? Ob mit oder ohne Bart.

Zum Autor: Sigi Heinrich Der vielfach prämierte Sportjournalist (u.a. Gewinner des Deutschen Fernsehpreises, des Bayerischen Sportpreises und nominiert für den renommierten Grimme-Preis), Buchautor, Sportlehrer, langjähriger Sportredakteur der Süddeutschen Zeitung und seit 1989 Kommentator bei Eurosport, widmet sich in seiner wöchentlichen Kolumne der gesamten Bandbreite des Sports. Dazu kommen auch Ausflüge in fremde Gefilde. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal nachdenklich oder bewusst provozierende. Es soll ja für alle etwas dabei sein.

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Unser Kolumnist Sigi Heinrich hat festgestellt, dass Thomas Müller die große Entfernung seit seinem Engagement in Kanada nicht schadet. Im Gegenteil: Er ist so präsent in seiner alten Heimat wie schon lange nicht mehr.

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