Kletterwand statt Bock und Barren: Schulsport muss sich ändern

Da steht er also, der Bock, das grausame Foltergerät jeder Schule. Dahinter lauert drohend eine Holmengasse. Der Barren. Eine Stange aus Eisen, quer aufgehängt an zwei kleinen Türmen, die sich aus dem Boden ziehen lassen, verspricht nichts Gutes. Das Martyrium kann beginnen. Schleppend schlurfen drei Dutzend Schüler, ermattet nach der letzten Mathestunde, in die Umkleidekabinen, werfen achtlos ihre Jeans auf die Holzbänke und schlüpfen in kurze Hosen. Das gerippte Unterhemd komplettiert den sportlichen Auftritt, der in ausgelatschten Turnschuhen stattfindet. Der Zuchtmeister wartet in seinem blauen Trainingsanzug auf seine Schäfchen, die ihre Schritte vorsichtig auf den Holzboden der Halle setzen. Gerade so, als würden sie zum Schafott geführt werden. Der eigentlich schönste Teil des Vormittages in der Schule beginnt. Sport. Für mich zumindest war er das.

Aber ich hatte auch das Glück, Sport zu lieben und habe ja auch siebenmal in der Woche abends an diesen Geräten trainiert. Später durfte ich gar mal einen Jugendländerkampf gegen die Tschechische Republik als Kunstturner bestreiten. Aus den Gesichtern der meisten meiner Schulkameraden freilich sprach das blanke Entsetzen. Anlauf, Absprung auf dem Reuterbrett, Grätsche über den Bock. Das Chaos nahm seinen Lauf. Die einen verweigerten störrisch wie ein Esel die Aufgabe. Sie liefen zwar an, wobei das eher Trott war und blieben dann einfach stehen. Die Trillerpfeife im Mund des Sportlehrers kannte keine Pause mehr. Der Barren danach war der Schauplatz vieler Tragödien. Alleine von einem Ende zum anderen stützend zu gelangen, überforderte viele. Arme knickten einfach ein, Schüler landeten kugelnd und stöhnend auf der Matte. Und beim Felgaufschwung an der Reckstange wurde klar, dass die Schwerkraft der Erde unüberwindlich ist. Nur mit Unterstützung des bedauernswerten Sportlehrers, der vorher übrigens auch Mathe unterrichtet hatte, schafften es einige, den Bauch über die Stange zu bringen.

Freiheit statt Drill Eigentlich sollte der Sportunterricht ja dazu beitragen, die Laune zu heben und den Körper, der sonst mehrere Stunden sitzend im Klassenraum zubringt, in Schwung zu bringen. Dieses Ziel wurde regelmäßig um Längen verfehlt, zumal unter Sport eben auch Disziplin verstanden wurde. Brav aufstellen, wie beim Militär, warten bis zum Piff, dann wieder sauber einreihen. Von Lockerheit, Gelassenheit und Freude keine Spur. Im Sommer war es nicht viel besser. Wer nimmt denn bitteschön freiwillig eine Eisenkugel in die Hand, die einem auf die Füße fallen kann? Und der ätzende Sand aus der Weitsprunggrube ist nicht nur in den Schuhen. Sport? Dann lieber noch Mathe. Das bringt ja auch den Kreislauf in Schwung, wenn das Wurzelziehen schmerzt. Ich mache den Sportlehrern keinen Vorwurf. Sie wussten es damals nicht besser und ihre Mittel waren zudem begrenzt alleine schon durch die traditionelle Ausstattung der Turnhallen mit Sprossenwänden und Kletterseilen, womit ich mich wie immer mit bedächtigen Schritten dem eigentlichen Thema vorsichtig nähere. Klettern.

Die Freiheit genießen an einer Wand, die mit Tritten und Griffen aus Plastik ausgestattet ist. Bouldern. Ich stelle mir gerade vor, wie das damals gewesen wäre, hätten wir statt Bock und Barren eine Boulder-Wand in unserer Turnhalle gehabt. Jeder hätte nach seinem Können und seiner Fasson glücklich werden können. Der eine schafft zwei Griffe, ein anderer klettert bis nach oben. Kein Drill, kein Zwang, keine Trillerpfeife. Wir stehen unten, schauen nach oben, dürfen uns unterhalten über die möglichen Lösungen und Herausforderungen. Die Stimmung ist gelöst, der Spaßfaktor groß. Der Gemeinsinn wird gestärkt. Der Bessere gibt dem, der nicht so fit ist, Tipps. Anfeuerung tritt anstelle des hämischen Grinsens, das sonst die Bemühungen derer begleitet hat, die halt nicht mit sportlichen Genen verwöhnt worden sind. Bouldern kann auch als pädagogisch wertvoll betrachtet werden, denn jeder wird respektiert, der sich der Aufgabe stellt.

Zeit für eine Zeitenw(ä)nde Vorbildlich in jeder Hinsicht ist da auch die Weltklasse, die in den nächsten Tagen wieder in Brixen Station macht. Gemeinsam schaut sich die Elite die Routen an. Man diskutiert in verschiedenen Sprachen, bevor man sich dann alleine den überhängend angebrachten Hindernissen stellen muss. Und am Ende sieht man im Finale, wie sich alle mit allen freuen.

Der Boulder-Weltcup in Brixen erfreut sich großer Beliebtheit. © Davide Terenzi

Ich weiß hundertprozentig, dass ich diesen Sport ausgeübt hätte, wenn ich nicht durch allerlei Zufälle zum Turnen gekommen wäre. Ich habe das ja auch nie bereut. Erfolge waren ebenso vorhanden wie allerdings auch kaputte Handflächen vom Reckturnen, die wir mit Hirschtalg bearbeiteten, nachdem wir großflächig die entstandenen Blasen mit einer kleinen Schere entfernt hatten. Außerdem gab es damals natürlich noch keine Boulder in den Hallen oder auch in Außenanlagen. Wir versuchten uns an ein paar Felsbrocken in der näheren Umgebung, ohne zu wissen oder zu ahnen, dass das mal ein olympischer Sport werden würde. Es war die Freizeit im Freien. Das krasse Gegenteil zum Schulsport.

Es ist Zeit für eine Zeitenwende. Wände. Weg mit den Sprossenwänden, die niemand benutzt und keiner braucht. Kletterwände wären zeitgemäß. Der Aufwand, das zu ändern, wäre verhältnismäßig gering, um Kinder und Jugendliche dafür zu begeistern, ein bisschen Höhenluft zu schnuppern. Spaß zu haben. Kein Drill, kein Bocksprung. Leibeserziehung. So hieß das in meinem Zeugnis. Bouldern ist dafür perfekt. Für den Kopf und für den Körper. Perfekt für den Schulsport. Und unter uns gesagt: Besser als jede Mathestunde. Aber das ist eine wirklich sehr persönliche Meinung.

Der Autor: Sigi Heinrich Der vielfach ausgezeichnete Sportjournalist und TV-Kommentator (u.a. Deutscher Fernsehpreis, Bayerischer Sportpreis, Biathlon-Award und World-Sports-Trophy) widmet sich in seiner Kolumne &bdquo;Sigi´s Spitzen“ der gesamten Vielfalt des Sports und wildert gerne auch in fremden Gefilden. Mal mit schmunzelndem Augenzwinkern, mal ernsthaft oder bewusst provozierend. Es soll ja für alle etwas dabei sein. Die Zusammenfassung der Finals des Weltcups in Brixen kommentiert er am Montag, 12. Juni von 09.30 Uhr bis 12.30 Uhr bei Eurosport.

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