Skisport am Limit: „Dann explodiert das ganze Paket“

Mehr als 20 Athleten sind im Weltcup zwischen Damen und Herren verletzt: Blutet Ihnen da das Herz oder gehört das ganz einfach zum Job? &bdquo;Natürlich blutet mir das Herz. Es ist sehr mühsam, das mit anzuschauen. Aber es ist nicht das erste Jahr, dass es so schlimm ist. Heuer ist der Unterschied, dass es sehr viele Weltklasse-Athleten erwischte. Deshalb erzeugt es mehr Aufmerksamkeit, der Aufschrei ist größer. Aber so blöd es klingt: Wir sind im Durchschnitt. Die ganze Geschichte ist sehr komplex. Es ist die Katze, die sich selbst in den Schwanz beißt.“

Können Sie das genauer erklären? &bdquo;Jeder Sturz hat seine eigene Vorgeschichte. Deswegen ist es falsch, alles in einen Topf zu werfen, den Skirennsport generell zu verteufeln.“

Dann beginnen wir mit den Details. Das Material... &bdquo;Das Material hat den Fahrer längst überholt. Um immer schneller zu sein in diesem Hochrisikosport, wird das Material immer mehr ausgereizt. Es sind längst nicht mehr nur die Ski alleine, die gefährlich sind. Es ist die Kombination Bindung, Bindungsplatte, Skischuh und Ski, die fatal ist. Die Serviceleute, die Industrie, die Entwickler und Tüftler – alles wird einer noch höheren Kurvengeschwindigkeit untergeordnet. Es gibt absolut keinen Spielraum mehr für Fahrfehler. Dann explodiert das ganze Paket. Die Bindungen sind zudem derart fest eingestellt, dass sie kaum mehr aufgehen. Mit fatalen Konsequenzen für die Athleten.“

Aleksander Aamodt Kilde fällt lange aus. © ANSA / PETER SCHNEIDER

Ist die Geschwindigkeit das Hauptproblem? &bdquo;Sofia Goggia hat beim Riesentorlauf-Training eingefädelt, da hat es ihr den Fuß zerbröselt. Wahrscheinlich war sie gar nicht so schnell unterwegs, aber wenn der Ski hineinfrisst, die Bindung fest zu ist, die Kanten auf ein Maximum präpariert sind – dann reißen die Bänder und Knochen. Die Kräfte in den Kurven sind mittlerweile extrem. Auch früher fuhr man in den Abfahrten geradeaus 140 km/h. Mit dem Unterschied zu heute, dass die Pistenpräparierung eine ganz andere und vor allem die Geschwindigkeit in den Kurven eklatant niedriger war.“

&bdquo;Müssten die Strecken anders präpariert werden? Nicht mehr so eisig? &bdquo;Das sehe ich nicht als Problem. Ich rede hier vom Herren-Weltcup. Wir als FIS-Renndirektoren arbeiten Hand in Hand mit den Veranstaltern und den Athleten. Für uns ist es ein Herantasten, vom ersten Training bis zum Renntag. Wir feilen täglich daran, die Piste so sicher, aber auch so spektakulär wie möglich zu gestalten. Wichtig ist, dass die Athleten mit dem Renn-Setup nicht Bedingungen vorfinden, die nicht fahrbar sind. Kein Fahrer gibt im Training Vollgas. Das erfordert auch für uns als Pistenbauer einen Spielraum zwischen Training und Rennen. Dann gibt es die Athletensprecher, mit denen wir ständig im Austausch sind: Vor dem Training, nach dem Training. Für einige Fahrer geht es nie schnell genug, andere sind vorsichtiger. Einige sehen nur den eigenen Vorteil, andere haben an jeder Kurve, an jedem Sprung etwas auszusetzen. Aber wenn es Sinn macht, sind wir die Ersten, die im Sinne der Sicherheit die Hebel ansetzen.“

Die Sturzdynamiken bringen nicht nur Kreuzbandrisse und Knochenbrüche mit sich, sondern auch immer mehr Schnittverletzungen... &bdquo;Es ist ein Fakt, dass bei den Stürzen zu 80 Prozent das Knie einen Schaden davon trägt. Sicher ist, dass beim Sturz von Broderick Thompson ein Airbag entscheidend geholfen hätte. Und auch Aleksander Aamodt Kilde würde wohl schon wieder Rennen fahren, wenn er in Wengen die schnittfeste Unterwäsche getragen hätte.“

Warum macht man Airbag und schnittfeste Unterwäsche nicht zum Muss? &bdquo;Es gäbe auch noch andere Protektoren am Körper, aber die sind nicht erwünscht bei den Fahrern. Die Airbags sind ab nächster Saison verpflichtend, die Unterwäsche leider nicht. Fragen Sie Aksel Lund Svindal. Der wäre nach seinem Sturz in Beaver Creek 2007, wo er sich fast den ganzen Unterkörper aufgeschnitten hat mit den Kanten, fast verblutet. Der hat danach immer die Unterwäsche angehabt. Aber unser Problem ist ein anderes.“ „Bei der MotoGP oder in der Formel 1 werden Entscheidungen von oben herab getroffen. Dort werden nicht die einzelnen Piloten gefragt, ob ihnen etwas passt oder nicht.“ Markus Waldner Und zwar? &bdquo;Einige Athleten verwenden die Unterwäsche und die Airbags, einige nicht. Es wäre höchst an der Zeit, Klarheit zu schaffen, sprich es als Pflicht einzuführen. Es nur als &bdquo;recommendation“, also als Empfehlung einzuführen, ist überflüssig. Ein Topfahrer hat mir einmal gesagt, dass er auf jedes Sicherheitsdetail verzichten würde, wenn er dafür einige Zehntelsekunden schneller ist. Beim MotoGP oder in der Formel 1 werden Entscheidungen von oben herab getroffen. Dort werden nicht die einzelnen Piloten gefragt, ob ihnen etwas passt oder nicht. Der weltbeste Skirennfahrer – Marco Odermatt – fährt seit jeher mit Airbag. Von ihm habe ich noch nie Klagen gehört, dass er sich damit in irgendeiner Weise eingeschränkt fühlt.“

Über die dünnen Rennanzüge wird nicht diskutiert? &bdquo;Natürlich waren auch diese ein Thema. Es wäre ganz einfach: Machen wir dickere Rennanzüge. Ob man 20 km/h langsamer unterwegs ist, fällt niemandem auf. Aber alle großen Skinationen haben ihre eigenen Entwicklungszentren, jeder schaut auf seinen möglichen, kleinen Vorteil. Der letzte Schrei unter den Top-Athleten sind Carbon Socken. Damit ist man im Skischuh extrem starr drin, man kann den Ski noch schneller auf Kante stellen.“

Verletzt: Sofia Goggia © ANSA / ANDREA SOLERO / z28

Thema Kurssetzung? &bdquo;Bei den Abfahrten sind wir am Limit. Mehr Kurven machen geht nicht, dann sind wir im Wald. Im Riesentorlauf haben wir es mittlerweile gut im Griff, sind da auf einem guten Weg. Wir haben den Telemeter (Gerät, um Entfernungen wie Torabstände zu messen) abgeschafft. Es wurde lange versucht, im Rennen identische Kurse zu setzen, wie sie vorher im Training gefahren wurden. Nur um vielleicht einen Vorteil zu haben. Aber in Adelboden muss ich dem Gelände folgen. Dort muss auch ein unrhythmischer Kurs erlaubt sein. Das wurde zuletzt super umgesetzt.“

Lara Gut-Behrami hat in einem Interview gesagt, dass die Trainer mit ihren Funksprüchen oft übertrieben reagieren, wenn jemand stürzt. &bdquo;Ich fand ihre Aussagen top. Trainer neigen dazu, alles zu über-analysieren. Sie kommentieren jeden Meter, die Athleten haben deshalb Chaos im Kopf und werden stark verunsichert dadurch.“

Dass es in Cortina d'Ampezzo in 3 Rennen jeweils mehr als 10 Ausfälle gab, war aber extrem bedenklich, oder? &bdquo;Ich bin Verantwortlicher bei den Herren und war in Cortina nicht vor Ort. Von den TV-Bildern her waren viele Fahrerinnen ganz einfach überfordert, es waren eklatante Fahrfehler dabei. Auch eine Mikaela Shiffrin war für einen kurzen Moment nicht richtig bei der Sache, und schon war es zu spät. Shiffrin ist das beste Beispiel: Sie ist keine typische Speed-Spezialistin. Wo Kurve auf Kurve folgt, fährt sie in der Abfahrt grandios mit. Aber wo technische Elemente wie Sprünge eine Rolle spielen, da hat auch sie ihre Grenzen.“

Zurück zu den Männern. Ist Wengen wirklich zu lang? Können Top-Athleten, die das ganze Jahr nichts anderes tun als ihren Körper dafür zu trainieren, nicht 3 oder 4 Tage in Folge 2.30-Minuten lang unterwegs sein im Renntempo? &bdquo;Mit der Müdigkeit hatten die Stürze in Wengen nichts zu tun. Jeder der Stürze von Kilde, Pinturault und Kohler hatte seine eigene Geschichte. Kilde war krank und hat sich trotzdem entschieden, an den Start zu gehen. Pinturault, der ein ehemaliger Slalomspezialist ist, unterlief ein Fahrfehler bei einem Sprung, genauso wie Kohler. Aber die Problematik ist auch hier eine andere.“ „Ich hoffe, dass wir aus der Kalender-Fehlplanung die richtigen Lehren ziehen.“ Markus Waldner Welche? &bdquo;Früher sind die Abfahrer auch 2 Trainings am Tag gefahren. Das ist jetzt nicht mehr möglich. Denn: Nach den Trainings stehen Medientermine an, am Nachmittag gibt es weitere Verpflichtungen, am Abend folgt die Startnummernverlosung. Die Sponsoren wollen etwas, zudem muss jeder Athlet seine sozialen Medien mit Storys füttern. Das kostet Zeit und – viel wichtiger – Energie. Diese sogenannten Nebenschauplätze zu streichen, geht aber nicht. Mehr Kohle und weniger Präsenz – das funktioniert nicht. Und fragen Sie einen Radprofi, der nach 7 Stunden Schinderei auf dem Rad weitere 2 Stunden ins Auto steigen muss, um zum Start der nächsten Etappe zu kommen. Die raunzen auch nicht.“

Heuer ist keine WM und kein Olympia. Jetzt haben wir Februar und es scheint fast, die Saison sei bereits vorbei... &bdquo;Der Kalender ist wegen verschiedener Gegebenheiten extrem ungünstig geplant. Wir haben noch nicht einmal Mitte Februar und für die Abfahrer ist die Saison so gut wie vorbei. Es folgt nur noch Kvitfjell Mitte Februar, dann das Weltcupfinale in Saalbach im März.“

Dafür fährt man ja noch einmal in die USA... &bdquo;Genau, Ende Februar, Anfang März sind wir zu 2 Technik-Wochenenden drüben. Ich hoffe, dass wir aus dieser Kalender-Fehlplanung die richtigen Lehren ziehen und dies nicht mehr so passiert. Der Skirennsport muss wieder in den Fokus rücken, die Reiserouten müssen berücksichtigt werden. Es kann nicht sein, dass wir im Jänner an 4 Wochenenden in Folge Speedrennen auf dem Programm haben. Dass das viele Athleten nicht schaffen, darf nicht verwundern.“

13 Weltcup-Abfahrten waren im Kalender. Bis am Ende werden es nur 9 werden, oder? &bdquo;Genau, und das ist ein &bdquo;normaler“ Wert der vergangenen Jahre. Mir war von Anfang an klar, dass der Saisonauftakt in Zermatt-Cervinia kaum zu schaffen sein wird. Bei dieser Meinung bleibe ich, die wissen auch meine FIS-Vorgesetzten. Schade war um Beaver Creek. Zudem bin ich gegen das Einschieben von Nachholrennen. Die haben Null Marketingwert. Das sollten wir in Zukunft nicht mehr machen, es ist eine Überladung des Sports. Zu oft präsent sein, finde ich nicht gut.“

Letzte Frage: Ist es nachvollziehbar, dass viele Eltern ihre Kinder nicht mehr zum Skirennsport schicken wollen? &bdquo;Klar sind die vielen Stürze und Verletzungen keine gute Werbung. Aber den Hochleistungs-Rennsport als Beispiel herzunehmen, wäre falsch. Der Bruder von Franz Klammer ist vor 50 Jahren schwer gestürzt und ist seitdem im Rollstuhl. Skifahren ist nun einmal ein Risikosport. Und ich bleibe dabei: Der Großteil der Verletzungen ist auf das Material zurück zu führen. Seit es den Carvingski gibt, der nicht auslässt bei einem Fehler in Rücklage oder in der Rotation, reißen die Bänder. Deswegen seinen Kindern vom Ski fahren abraten, finde ich völlig abwegig. Es ist ein unglaublich komplexer, schwieriger, aber auch faszinierender Sport.“

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